
Darum geht’s:
Zu sagen, Greta wäre am Tiefpunkt angekommen, ist vielleicht ein bisschen zu theatralisch, aber genau das ist Greta: theatralisch. Dazu nimmt sie es auch nicht so genau mit der Wahrheit – was sie letztlich den Job gekostet hat. Jetzt vertritt Greta in Rerik, einem verschlafenen Ostsee-Städtchen, die hochschwangere Ida, die dort ein kleines Hotel führt. Gerade als Greta glaubt, vor Langeweile zu sterben, steht eine Rockband vor der Tür und ihr Leadsänger ist niemand Geringeres als Gretas bester Freund aus Kindertagen.
Taylor hat alles, was man sich wünschen kann: Eine Karriere, viel Geld und die Frauen liegen ihm zu Füßen. Aber ist das wirklich alles, was man im Leben braucht?
Greta und Taylor – zwei, die sich wiederfinden. Doch der jungen Liebe stehen die Unwägbarkeiten von Ruhm und Reichtum im Weg. Hat ihre Liebe eine Zukunft?
Kapitel 1
Ich kann förmlich hören, wie meine Mutter die Lippen spitzt. Nach zwei stillen Sekunden begannt sie mit der alten Leier. »Was hast du angestellt?«
»Wie kommst du darauf, dass ich etwas angestellt habe?«
»Dir wurde gekündigt, Schatz, selbstverständlich hast du etwas falsch gemacht. Ganz offensichtlich.«
Ja, natürlich habe ich etwas verbockt, aber erstens werde ich meiner Mutter sicher nicht erzählen, was das war und zweitens … kann sie nicht einfach mal auf meiner Seite sein? Warum geht sie davon aus, dass ich die Schuldige bin? Das war früher schon so! Wenn mich andere Kinder geärgert haben, kam von ihr die Frage, was ich getan hatte. Wenn ich schlechte Noten schrieb, lag das nie an den unfairen Klassenarbeiten, sondern immer an meiner schlechten Vorbereitung. Immer und jedes Mal suchte meine Mutter die Schuld für mein Versagen bei mir. Kein Wunder, dass ich so gut darin geworden bin, mir Ausreden und Notlügen auszudenken. Ich konnte es mir schlicht nicht erlauben, ehrlich zu sein.
»Ich habe nichts verbockt, der Agentur geht es finanziell nicht so gut. Deshalb wurde ich entlassen. Mit meiner Arbeitsleistung hat das nichts zu tun.«
»Wenn du meinst.« Wie sie das schon wieder sagt. Sie glaubt mir nicht.
»Und was soll ich Tante Luzy sagen? Und deinen Brüdern?«
»Was haben Tante Luzy, Torben und Gustav damit zu tun?«
»Kind, ich bitte dich! Tante Luzy feiert nächste Woche ihren sechzigsten Geburtstag. Sie wird wieder ihre perfekte Tochter vorführen und was sage ich?«
»Nichts. Warum solltest du irgendetwas über mich sagen müssen?«
»Weil sie mich nach dir fragen wird. Was sage ich ihr dann?«
»Wo ist das Problem, ihr zu sagen, dass ich gerade eine berufliche Krise durchmache?« Die Untertreibung des Jahrhunderts.
Meine Mutter seufzt. »Schau dir doch deine Brüder an. Die sind beide verheiratet, haben Kinder und ordentliche Jobs. Und du? Du fängst schon wieder bei null an.«
»Mama, ich bitte dich! Ich habe studiert, die Welt bereist und … und …«
»Und bist jetzt arbeitslos.«
»Ich bin nicht arbeitslos.«
»Nicht?«
»Nein. Ich habe einen neuen Job.«
»Was für einen?« Sie fragt es mit diesem Unterton. Als ginge sie davon aus, dass ich bei einem Schnellrestaurant Pommes wende. Ich richte mich auf und sage: »Ich bin Hotelmanagerin in einem schicken Hotel an der Ostsee.«
»Ach.«
»Ja. Hörst du die Wellen nicht?« Ich halte mein Handy Richtung Meer und warte ein paar Sekunden. »Gehört?«
»Ja.«
»Siehst du? Ich wollte dich nur informieren, dass es von mir Neuigkeiten gibt. Du kannst Tante Luzy also erzählen, dass ich aufgestiegen bin. Ich hoffe, das macht dich glücklich. Ich muss jetzt auflegen.«
»Schick mir eine Karte.«
»Mach ich.« Als ob ich Geld für eine Briefmarke ausgeben würde. Ich schicke ihr ein Bild über What’s App und fertig. »Tschau.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, drücke ich sie weg, knipse ein Selfie, auf dem ich so richtig glücklich und stolz aussehe, und schicke es ihr in einer Nachricht. Tief durchatmend packe ich das Handy weg und blicke auf die unruhige See. Meine Mama treibt mich noch in den Wahnsinn. Kann sie nicht einmal stolz auf mich sein? Wiederum: Kann ich nicht einfach mal stolz auf mich sein? Brauche ich dafür ihre Absolution? Aber vor allem: Was brauche ich in meinem Leben, um stolz auf mich zu sein?
Wenn ich das nur wüsste …
Mal ehrlich: Mauritius, Hawaii oder Bali ist dieses Rerik nicht. Es ist die Ostsee. Zugegeben, es gibt Wasser, Möwen, Fischbrötchen und so weiter, aber trotzdem. Das macht es noch lange nicht zum Paradies auf Erden.
»Alles in Ordnung?«, fragt Emma und tritt neben mich.
»Ja. Nur meine Mutter.«
Sie schweigt und ich muss nicht darüber reden, dass meine Mutter mir mal wieder das Gefühl gegeben hat, die größte Verliererin zu sein. Im Gegensatz zu meiner Cousine, die »eine gemachte Frau ist« und dass nur, weil sie mit Anfang zwanzig einen Kerl aus ihrem Dorf geheiratet und mit ihm ein Kind bekommen hat. Aus welchem Jahrhundert stammt meine Mutter eigentlich?
»Ist es nicht paradiesisch hier?« Emma, meine alte Reisebekanntschaft, blickt verträumt auf die See hinaus und lächelt. Sie hat gut reden: Sie wohnt mit ihrem Typen in einer Luxusvilla und ihre Trauredneragentur wird überrannt mit Anfragen, die Menschen strömen nur so nach Rerik, um sich von ihr am Hafen verheiraten zu lassen. Ich könnte kotzen bei so viel Glück im Leben.
Ich seufze, was so viel heißen soll, wie: Ich hasse mein Leben, aber sage: »Ja. Das ist es.« Lügen ist mir schon immer leichtgefallen. Schon als Kind. Dieses ganz besondere Talent hat mich bereits aus so manch brenzliger Situation gerettet. Gut, es hat mich auch in so manch brenzlige Situation gebracht, aber in Summe läuft es auf null zu null raus. Mindestens.
»Ich habe ein Riesenglück, hier gelandet zu sein.« Das habe ich nicht. Dass ich hier gelandet bin, ist der Tiefpunkt meines bisherigen Lebens. Aber ich will nicht undankbar erscheinen. Emma hat mir diesen Job verschafft, weil ich dringend etwas gebraucht habe, nachdem mir von heute auf morgen wegen dieser dummen Sache gekündigt wurde. An einem einzigen Tag habe ich wirklich alles verloren: den Freund, den Job, den guten Ruf. In meiner Branche stellt mich jedenfalls niemand mehr ein. Trotzdem geht es weiter. Irgendwie geht es immer weiter.
Wenn auch schlechter denn je. Statt mit Alice Springs, der coolsten Rockröhre Englands, durch Deutschland zu touren, hocke ich in Rerik und übernehme die Leitung eines winzigen Hotels – als Schwangerschafts- und Elternzeitvertretung – das auch noch in einer wirtschaftlichen Krise steckt und null Komma null Buchungen hat. Eine Übergangslösung. Aber immerhin eine Lösung. Deshalb bin ich dankbar. Und werde einen Teufel tun, mir anmerken zu lassen, wie tief sich dieser Absturz für mich anfühlt.
Die See vor uns ist rau, der Himmel darüber ein bedrohliches Grau. Es wird bald Regen geben. Wie passend zu meiner Situation. Ich stehe buchstäblich im Regen. Ha. Ha.
»Da hinten ist der Leuchtturm. Da ist es wunderschön und es gibt immer frischen Kaffee. Den Kuchen für den Nachmittag bekommt das Hotel von Timm, dem Besitzer. Aber mach dir keine Hoffnungen – er ist vergeben.«
»Oh, danke, aber ich bin überhaupt nicht auf der Suche. Von Männern habe ich für eine ganze Weile die Nase voll.« Das stimmt sogar. Tatsache ist, dass ich stellvertretend für Alex gerne allen Männern auf der Welt zwischen die Beine treten möchte. Einfach weil bestimmt jeder zweite Tritt verdient wäre, so arschig wie sich Männer uns Frauen gegenüber verhalten. Wäre Alex nicht gewesen, ich hätte meinen Job auf jeden Fall noch.
»Verstehe. Aber ich muss dich warnen: In Rerik fliegen sich die Herzen auf magische Weise nur so zu.« Emma zwinkert geheimnisvoll, woraufhin ich nur trocken lachen kann. »Magisch fliegende Herzen? An mir prallen die Dinger ab, vertrau mir.«
Ich kann mich gar nicht erinnern, dass Emma früher so romantisch war. Aber gut, es ist ja auch eine Weile her. Wir haben uns vor fünf Jahren im Ausland kennengelernt, in Indonesien. Sie war damals noch mit Ida unterwegs, aber die hat dann so einen kiffenden Möchtegern-Gangster kennengelernt und ist mit dem weitergezogen. Und Emma hat sich mir und meinen Freunden angeschlossen.
»Zurzeit bringt Timm natürlich keinen Kuchen, so ohne Gäste … Aber sobald wieder Gäste kommen, weißt du, wo du welchen bekommst.«
Ein paar Regentropfen landen auf meinem Kopf und binnen zwei Sekunden platschen riesige Tropfen in die Ostsee.
»Nichts wie zurück ins Hotel!«, ruft Emma und rennt voraus. Quietschend – ich – und lachend – sie – jagen wir über den Strand, den Hang hinauf und durch das kleine Wäldchen, das das Hotel vom Strand trennt. Bis wir in Idas kleinem Hotel ankommen, sind wir pitschnass und wringen uns die langen Haare an der Türschwelle aus.
»Himmel, ihr holt euch noch den Tod!«, ruft Ida, meine neue Chefin. Sie schnappt sich ein paar Handtücher aus dem Korb mit der frischen Wäsche und will damit zu uns kommen, bleibt aber auf dem Weg mit ihrem gigantischen Babybauch an einem Stuhl hängen. Der fällt krachend zu Boden und Ida bricht in Tränen aus. »Ach, scheiße! Warum läuft denn nur alles schief in meinem Leben?«
Wen fragt sie das? Ich könnte mich gerade daneben stellen und mitweinen.
»Ach, Idalein, nimm’s doch nicht so schwer«, versucht Emma, sie zu trösten, »es ist doch nur ein Stuhl. Schau, schon steht er wieder.«
Aber Ida lässt sich nicht beruhigen. »Nicht so schwer? Das Hotel läuft scheiße, ich bin kurz vorm Explodieren und wie es nach der Geburt weitergehen soll, weiß der Himmel.« Sie schluchzt unkontrolliert und schnieft in Emmas T-Shirt. »Und alles nur wegen dieser Lügenrezensionen auf Google!«
»Ida, das wird sich alles klären«, sagt Emma mit einer Engelsgeduld und tätschelt ihrer Freundin die Schulter. »Die Polizei ist dran und Google wird sicher auch bald einsehen, dass es sich bei diesen ganzen schlechten Rezensionen um eine Hetzkampagne gegen dein kleines, süßes Hotel handelt.«
»Es ist nicht süß, es ist schnuckelig.«
»Und schick«, ergänze ich, in der Hoffnung, damit zu helfen.
Die schlechten Rezensionen sind kurz vor meiner Einstellung aufgepoppt. Pro Tag tauchen fünf bis zehn solcher Ein-Stern-Rezensionen mit kurzen Texten auf, die von schlechtem Deutsch geprägt sind, – das hält bis heute an und ein Ende ist nicht in Sicht. Es ist eindeutig, dass es sich um eine Kampagne gegen das Hotel handelt. Aber Google weigert sich, die Rezensionen zu löschen. Die Konsequenz: Seither kommen keine Buchungen mehr rein. Tatsächlich werde ich in der kommenden Woche – meiner ersten Woche ohne Ida – keine Gäste betreuen. Ich weiß nicht, was ich mit all der freien Zeit anstellen soll. Vielleicht mache ich einen Online-Spanisch-Kurs oder lerne ein Instrument. Schlagzeug oder Tuba oder so. Stört hier draußen sicher keinen. Ich glaube, Peda, der Nachbar auf der einen Seite, ist halb taub und Emmas Flower-Power-Eltern gegenüber machen selber jeden Tag merkwürdigen Krach.
Auf der Küchentheke steht Idas Laptop, aus dem der neue Song von Wicked Womb dröhnt. Verstohlen werfe ich einen Blick auf den Bildschirm und trockne mir die nassen Haare mit einem der Handtücher. »Was schaust du dir an?«, frage ich und reiße Ida damit aus ihrer Mitleidsphase. Sofort hat sie bessere Laune. Vielleicht bräuchte ich auch jemanden, der mich von meinem Elend ablenkt.
»Ein Live-Konzert von Wicked Womb. Taylor West ist einfach heiß. Sein Anblick ist das einzige, das mich zurzeit aufbauen kann.«
»Du stehst auf diesen Teenie-Schwarm?« Emma belächelt die hochschwangere Ida.
»Er ist nicht nur ein Teenie-Schwarm. Auch die Mütter stehen auf ihn. Er ist nun mal hübsch anzusehen. Und diese Stimme … Ich jedenfalls würde ihn nicht von der Bettkante stoßen.« Sie lässt den Kopf hängen und legt die Hände auf ihren kugelrunden Bauch. »Na ja. Aber er mich wahrscheinlich.«
»Unsinn«, sage ich. »Taylor würde dich auf Händen tragen.«
Beide starren mich an und lachen dann.
»Was?«
»Du sagst das so, als würdest du ihn kennen.« Emma schüttelt lachend den Kopf.
»Ich kenne Taylor tatsächlich.«
Ida reißt die Augen auf. »Ernsthaft?«
»Ja. Wir sind zusammen aufgewachsen.«
»Ida, glaub ihr kein Wort. Wahrscheinlich hat sie ihm mal Backstage bei einem Konzert die Hand geschüttelt.«
»Was an sich schon eine große Sache wäre …«
»Ich bin wirklich mit ihm aufgewachsen. Er war mein bester Freund. Meinetwegen hat er diese Narbe über der Augenbraue. Beim Kämpfen hab ich ihn aus Versehen gegen einen Blumenkübel gestoßen und er hat sich den Kopf blutig geschlagen.«
Für einen Moment ist es still. Emma fasst sich als Erstes. »Du bist mit Taylor West aufgewachsen?«
»Ja doch. Damals hieß er noch Taylor Müller und alle Welt hat sich über seinen Vornamen lustig gemacht.«
Statt bewundernder Blicke ernte ich von Emma nur Lachen und von Ida einen Röntgenblick. »Moment, Emma«, sagt sie. »Ich glaube ihr.«
»Tu das nicht, Ida. Einmal hat sie erzählt, wie sie U2 in einem Restaurant getroffen hat, aber dann hat sich herausgestellt, dass sie gar nicht mit denen Essen war. Ernsthaft, Greta, hör auf mit deinen Märchengeschichten. Schreib Bücher, wenn du kreativ sein willst, aber hör auf, deine Umwelt mit diesen Lügen zu nerven. Das hat dir schon genug Ärger eingebracht, findest du nicht?« Emma hebt vielsagend eine Augenbraue und mir ist klar, dass ich jetzt besser nichts mehr sagen sollte.
Wie unfair! Okay, damals bei U2 habe ich vielleicht tatsächlich ein wenig übertrieben, aber Taylor war wirklich mal mein bester Freund. Wir sind in einem kleinen Kaff in der Nähe von Köln aufgewachsen. Allerdings klingt das so uncool, dass ich lieber erzähle, dass ich in der Kölner Innenstadt aufgewachsen bin – wenn man sowas behauptet, ist man direkt der Mittelpunkt jeder Party. Da wissen alle sofort, dass man mit mir Spaß haben kann.
Ich betrachte meinen ehemaligen besten Freund aus Kindertagen auf dem Laptop meiner Chefin. Er ist erwachsen geworden. Natürlich habe ich ihn über die Jahre immer wieder gesehen – im Fernsehen, auf Plakaten, auf T-Shirts. Taylor kann man seit zwei, drei Jahren gar nicht mehr nicht sehen. Himmel, sogar auf diesen Klatschmagazinen an den Supermarktkassen habe ich ihn entdeckt.
Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie wir als Kinder Konzerte in den Wohnzimmern unserer Eltern gegeben haben. Er hat schon damals mehr Talent bewiesen als ich. Jedenfalls haben unsere Zuhörer immer nur ihn angehimmelt – selbst meine Eltern. Da wurde mir klar, dass mein bester Freund etwas hat, das ich nicht habe. Taylor war etwas Besonderes und tief in mir drin wusste ich immer, dass er nicht in diesem kleinen Kaff bei Köln bleiben würde. Aber ich wollte nie ohne ihn sein. Mit dem Wissen, dass er gehen würde, wurde es auch mein Traum, das Dorf zu verlassen und die Welt zu bereisen. Nur dass wir es nie gemeinsam taten. Im Gegenteil. Nachdem er fortging, um Karriere zu machen, habe ich ihn nie wieder gesehen. Und das, obwohl er mich am letzten Abend geküsst hat … In all den Jahren unserer Freundschaft hat er das nur ein einziges Mal getan. Beim Abiball. Ich dachte, es wäre der Anfang von etwas Großem, etwas Gutem. Doch Taylor hat all meine Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft binnen Sekunden zerstört. Er würde am nächsten Morgen nach London gehen, waren seine Worte. Karriere machen. Er wolle versuchen, was aus seinem Talent zu machen. Der Kuss war nicht mehr als ein Abschied. Ein Abschied für ihn, damit er mich hinter sich lassen konnte. Ein gebrochenes Herz für mich. Hätte er mich damals nicht geküsst, wäre mir der Abschied lange nicht so schwergefallen. Wer weiß, vielleicht hätte ich jetzt sowas wie eine funktionierende Beziehung und würde nicht ständig auf den Richtigen warten.
Aber so war er, der liebe Taylor.
Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört – abgesehen von den Nachrichten, die man in Zeitschriften und im Internet so liest: Vor fünf Jahren tauchte er als Leadsänger einer Rockband auf. Fünf Mitglieder. Taylor, der charmante Leadsänger mit den dunklen Haaren. Aaron, der blonde Mädchenliebling mit der Gitarre. Eric, der schwule Sunnyboy mit dem Bass. John, der Geheimnisvolle am Keyboard und Elliott, der Freak mit den tausend Tattoos am Schlagzeug.
Zu Beginn ihrer Karriere war nicht abzusehen, dass sie mal derart berühmt werden würden. Aber genauso ist es gekommen: Unzählige Grammys, Welttournee, ausverkaufte Stadien und wenn man das Radio einschaltet, kommt mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit einer ihrer Songs.
Es ist zum Kotzen.
Als ich Taylors Foto vor zwei Jahren zum ersten Mal an einem Zeitschriftenkiosk am Bahnhof von Berlin gesehen habe, habe ich ein Foto gemacht und ihm das Bild per WhatsApp geschickt – ich glaube, ich habe bis heute keinen zweiten Haken. Er hat das Bild nie gesehen. Klammheimlich hatte der Rockstar Taylor, der mittlerweile nicht mehr Müller, sondern West hieß, eine neue Handynummer und seine beste Freundin aus Kindertagen nicht darüber informiert. Festzustellen, dass mich Taylor in seinem neuen Leben als Superstar nicht mehr haben wollte, hat verdammt wehgetan. Zu sehen, dass er es weiter so lebt, als hätte es unsere Freundschaft nie gegeben, zerreißt mich bis heute.
»Hi Leute! Hier gibt’s die neuesten Life-News zu euren Crushes von Wicked Womb«, dröhnt die Stimme der Moderatorin irgendeines YouTube-Channels. »Laut Quellen aus dem innersten Kreis der Rockband arbeiten die fünf Jungs gerade an ihrem neuen Album. Und alle Fans based in Deutschland aufgepasst: Laut dieser Quelle befinden sich die schnuckeligen Boys an der Ostseeküste. Ja, ihr habt richtig gehört! Die fünf schreiben ihre neuen Songs nicht auf den Bahamas, in L.A. oder in Schweden. Nein, die Jungs haben sich ausgerechnet für die Ostsee entschieden. Aber Mädels, ihr müsst schnell sein! Die Gerüchteküche brodelt und angeblich soll Taylor mit niemand Geringerem als der heißen karibischen Schönheit Noella anbandeln. Wenn das mal kein heißer Sommer wird! Also: Wenn ihr gerade in den Ferien an der Ostsee seid, haltet die Augen offen – gut möglich, dass ihr am Strand auf fünf heiße Boys trefft. Wer weiß – vielleicht ist ja eine von euch die nächste an Taylor Wests Seite …«
»Wicked Womb an der Ostsee?« Emma lacht und fährt sich durch ihr langes, blondes Haar. »Als ob! Jungs wie die sind überall auf der Welt unterwegs, aber sicher nicht an der Ostsee.«
»Also ich werde die Augen offenhalten«, grinst Ida. »Stellt euch das mal vor: Wicked Womb in Rerik.« Die beiden lachen wie hormonverseuchte Teenager.
»Ihr solltet euch mal hören«, sage ich und sammele Emmas Handtuch ein, um es gemeinsam mit meinem in die Waschküche zu bringen. »Als wärt ihr wieder vierzehn.«
Daraufhin brechen die beiden in noch wilderes Gelächter aus. »Wenn ich Taylor sehe, werde ich ihn von dir grüßen, Gretchen.«
Ich zeige Emma den Mittelfinger und verschwinde im Keller. Sie glauben mir ja sowieso nicht. Kein Wunder nach dem Bock, den ich bei meinem letzten Job geschossen habe. Mein alter Job … Wie ich den vermisse! Und meine Kollegen … Wir waren ein tolles Team. Alles futsch. Wegen eines einzigen Abends. Und diesem miesen Typen, für den ich das alles getan habe …
Bis vor kurzem war ich bei einer PR-Agentur tätig. Wir haben die ganz großen Veranstaltungen organisiert. Auch ein paar B-Promis zählten zu unseren Kunden. Ich war echt gut darin, denen alles zu organisieren, was sie wollten. Es hat mir Spaß gemacht und ich wurde mit den wichtigsten Kunden betreut. So auch mit Alice Springs – unserem ersten internationalen Star. Ich sollte ihren Aufenthalt in Deutschland managen. Hotel, Logistik, Verpflegung – einfach alles. Zu meiner Verteidigung für das, was ich getan habe: Kurz zuvor hatte sich mein letzter Freund von mir getrennt. Die Art Freund, von der man denkt, dass man mit ihm eine Familie gründet – Ehe, Kinder, Haus. Zu alldem war ich bereit gewesen. Doch dann hat er mich sitzen lassen. Wieder ein paar Jahre meines Lebens mit dem falschen Typ verschwendet. Und nun bin ich Anfang dreißig und der Traum von Familie ist in weite Ferne gerückt. Kurzum: Ich hatte Angst, etwas zu verpassen. Beim nächsten Club-Besuch mit meinen Kollegen habe ich dann Alex aufgegabelt. Er war fantastisch. Gutaussehend, klug, charmant. Er war alles, was ich zu diesem Zeitpunkt gebraucht habe. Und ich wollte ihm gefallen. Als ich ihm bei einem unserer Dates von Alice Springs und ihrem Besuch in Deutschland erzählt habe, hat er mir gestanden, wie geil er es fände, Sex in ihrem Trailer zu haben. Obwohl mir die Idee gefiel, wusste ich natürlich, dass das ein absolutes No-Go war – für Stars auf Tournee ist ihr Trailer so etwas wie ihr Zuhause.
Aber ich wollte Alex den Gefallen tun. Also dachte ich, am Ende ihrer Deutschland-Tournee wäre es okay. Spoiler: War es nicht.
Bei ihrem letzten Konzert in Berlin bot sich die optimale Gelegenheit für mein Vorhaben. Ich vergewisserte mich, dass der Trailer nach dem Konzert nicht mehr benötigt würde, besorgte mir den Code zu dem Luxus-Nightliner und schleuste Alex in den Backstage-Bereich. Noch während des Konzerts betraten wir das mobile Reich der Sängerin. Dusche, Sitzlounges und natürlich das Kingsize-Bett im hinteren Bereich. Selbstverständlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, während wir uns im gerade erst benutzten Bett der Künstlerin wälzten. Nicht nur das. Ich hatte eine Heidenangst. Aber die ganze Zeit über versicherte ich mir, dass ich an alles gedacht hatte und nichts passieren konnte. Oh, wie ich mich getäuscht hatte …
Es war Alice‘ Bodyguard, der uns erwischt hat. Ich habe noch versucht, ihn davon zu überzeugen, uns nicht zu verpfeifen. Ich hatte gedacht, nein, gehofft, dass so ein Bodyguard vielleicht Verständnis zeigen würde oder ein Auge zudrückt. Aber er war Alice gegenüber vollkommen loyal. Zumal er seit vielen Jahren für sie arbeitet.
O mein Gott, ich habe in meinem Leben noch nie so viel Ärger bekommen! Nicht nur, dass mich der Bodyguard nach dem Konzert zwang, Alice die ganze Sache persönlich zu erzählen, nein, noch in derselben Nacht hat mir mein Chef gekündigt. Und all das für einen Typen, der seit jener Nacht meine Anrufe ignoriert.
Tja. Und jetzt habe ich keinen Job mehr, keine Karriere, keinen Mann an meiner Seite und mein guter Ruf ist im Arsch. Stattdessen vertrete ich eine hochschwangere Hotelbesitzerin, um wenigstens für ein Jahr ein geregeltes Einkommen zu haben. Wobei, wenn ich mir die Buchungen der nächsten Wochen ansehe, ist es gut möglich, dass Ida sich schon in ein paar Monaten keine Vertretung mehr leisten kann. Es ist einfach absurd, welchen Einfluss die Google-Rezensionen auf das Geschäft haben. Dabei ist es so schön hier. Wie gesagt, nicht Hawaii, nicht Mauritius und so. Aber das Hotel liegt idyllisch versteckt in einer Sackgasse. Eine Pferderanch auf der einen Seite, ein paar Alt-Hippie-Nachbarn auf der anderen. Und gleich hinter dem kleinen Waldgebiet, keine fünf Minuten Fußweg entfernt, liegt der Strand. Das Hotel ist erst vor einem Jahr oder so eröffnet worden. Ida und ihre Schwestern haben ihr gesamtes Erbe und noch mehr in Idas Traum von einem Hotel investiert – und wow, sie haben da wirklich etwas Tolles geschaffen. Das Konzept ist aufgegangen. Bis zu diesen Rezensionen ist es richtig gut gelaufen. Aber dann das. Ich frage mich, wer wohl dahintersteckt. Mein Verdacht ist ja das Reriker Hotel drüben am Deich. Sie sind die einzige Konkurrenz. Und dann wieder doch nicht. Das Reriker Hotel ist ein Fünf-Sterne-Hotel mit piekfeiner Küche. Dort kommt andere Klientel unter als unsere. Unsere Gäste sind meist jung und eher mittellos. Sie genießen das familiäre Ambiente, den großen Esstisch, an dem alle Gäste gemeinsam frühstücken, den Gemeinschaftsbereich, in dem man die Abende miteinander verbringt, die Feuerstelle vor dem Haus, an der jeder sein Stockbrot backen kann. Es ist ein Traum. Eigentlich. Dummerweise hat keine von uns eine Idee, was wir gegen die schlechten Bewertungen machen können. Wenn Google sie nicht löscht, kann dem kleinen Hotel am Wäldchen nur noch ein Wunder helfen.
Kapitel 2
»Ida, komm doch mal zur Ruhe! Du hast ja gar keine Zeit, ein Kind auf die Welt zu bringen, weil du dich nur mit Google rumärgerst.«
»Zu Recht! Die Lage des Hotels ist miserabel. Ich kann dicht machen, wenn nicht bald ein Wunder geschieht.«
Während wir in den ersten Tagen nach Meldung der falschen Rezensionen noch fast stündlich auf Antwort von Google gewartet haben, schauen wir nun nur noch einmal täglich in den Mail- und Spam-Ordner. Nichts. Sie lassen sich Zeit mit einer Antwort, währenddessen geht Idas Traum den Bach runter.
Der Armen geht es immer schlechter. Sie wirkt blass und schmal im Gesicht, hält sich wahlweise den schmerzenden Rücken, Bauch oder beides. »Wann ist der Geburtstermin?«
»Morgen.«
»Morgen! Um Gottes Willen!« Ich springe auf, als müsste ich Erste Hilfe leisten, aber Ida sieht mich nur genervt an.
»Keine Sorge, ich gebe dir Bescheid, falls ich etwas brauche oder das Kind hier an der Rezeption auf die Welt kommen will. Ansonsten rufe ich Philipp an.« Ihr Mann Philipp ist der Bürgermeister von Rerik und meist unterwegs. Allerdings immer in der Nähe, was es leichter für ihn macht, zur Stelle zu sein, wenn es ernst wird.
Mit schwindender Energie auf Seiten Idas steigen meine Verantwortlichkeiten. Dass ich bei meinem letzten Arbeitgeber für einen Rieseneklat gesorgt habe, habe ich meiner neuen Chefin erzählt – weil Emma mich gezwungen hat. Ich hätte es lieber nicht erwähnt. Ich hatte mir schon eine ganz wunderbare Geschichte vom beruflichen Neubeginn, der Leidenschaft aus Kindertagen, zurechtgelegt, als Emma reinen Tisch machte mit den Worten: »Ida, das ist meine Freundin, sie hat im Trailer eines Kunden ihren Freund gevögelt und wurde deshalb gekündigt. Und jetzt, viel Erfolg beim Bewerbungsgespräch, ihr beiden.« Tja, damit waren die Dämme gebrochen. Ich habe ihr alles erzählt, wie es dazu kam, was meine Learnings waren, wie scheiße Männer sein können und ihr hat das anscheinend gefallen. »Deine Ehrlichkeit gefällt mir. Solange du keine Typen in meinem Hotel abschleppst, kannst du den Job haben«, hat Ida gesagt. Ich habe mich derweil gewundert, wie sie darauf kommt, ausgerechnet mich als ehrlich zu bezeichnen. Ich glaube, in meinem ganzen Leben war das das erste Mal, dass ich ehrlich war – gezwungenermaßen.
»Hör mal, ich mach Schluss für heute. Ich hab bei Timm im Leuchtturm Kuchen bestellt – kannst du den abholen? Immerhin ist Freitag und es ist gutes Wetter angesagt – vielleicht verirrt sich jemand übers Wochenende hierher.«
»Ich kümmer mich darum. Erhol dich ein bisschen.«
Idas Schwester Elin lebt mit dem besten Konditor der Ostsee – Zitat Ida – in einer schicken Wohnung im Leuchtturm in Bastorf. Der Blick von dort oben muss gigantisch sein. Vielleicht frage ich die beiden mal, ob ich hochkommen und die Aussicht genießen darf. Elin arbeitet aber nicht im Leuchtturm-Café. Sie ist seit ein paar Monaten die Pressesprecherin der Gemeinde und schreibt für ihren Schwager Philipp die Reden. Eine ganz schöne Vetternwirtschaft, wenn man so darüber nachdenkt. Aber es scheint zu funktionieren und wenn die Familie im Hotel zum Essen zusammenkommt, wird über alles Mögliche gesprochen, aber selten über Philipps Arbeit. Dann eher über Simons Aufgaben auf dem Pferdehof neben dem Hotel. Er ist der Freund der dritten Schwester, Annie, und hat auf seinem Grundstück eine Auffangstation für Pferde. Annie – und da geht die Vetternwirtschaft weiter – kümmert sich um seine Finanzen und die des Hotels. Weil Simon und Ida zwar clevere Geschäftsideen hätten, aber von Zahlen nicht die Spur einer Ahnung, sagt Annie. Sie ist auch diejenige, deretwegen Ida die meisten Sorgenfalten auf der Stirn hat. Täglich ruft sie Ida an, um nachzufragen, ob sich Google schon gemeldet hat. Beim letzten Familienessen vor zwei Tagen, bei dem ich offiziell in den Clan aufgenommen wurde, hat Annie deutliche Worte für die Situation des Hotels gewählt: »Wenn wir für September die Zimmer nicht voll bekommen, müssen wir einen Kredit aufnehmen.« Diese Ankündigung hat am Tisch für reichlich Unruhe gesorgt. Denn der September ist kein guter Urlaubsmonat. Die meisten Bundesländer in Deutschland haben dann keine Ferien mehr und was das Wetter betrifft, kann man maximal in den ersten zwei Wochen mit Sonne und warmen Temperaturen rechnen. Kurzum: Dass alle Zimmer des Hotels im September ausgebucht sind, ist utopisch!
Der Verkehr heute ist ein Desaster. Es sind zig Autos auf den Straßen, überall wird gehupt und gestikuliert und ich baue beinahe einen Unfall, weil so ein Spinner vor mir erst Gas gibt wie verrückt und dann auf die Bremsen steigt. Erst am Ortsrand von Bastorf wird es ruhiger und ich kurbele das Fenster runter, um mir den Wind genüsslich um die Ohren wehen zu lassen. Nein, Mauritius oder Bali ist das hier nicht. Aber es riecht nach Salzwasser und Freiheit. Ich hätte es schlimmer treffen können.
Bald darauf ragt der Leuchtturm vor mir auf. Mit seiner roten Kuppel sieht er aus wie ein zu klein geratenes Feuerwehrhaus. Fast einsam steht er zwischen den Feldern und Sonnenblumen. An heißen Tagen ist der Weg beschwerlich, denn es gibt nicht einen Baum vom Parkplatz bis dorthin. Ich schätze, das ist Teil des Erfolgsrezepts von Timms Café. Jedenfalls scheint es sehr gut zu laufen. Auch heute sind schon Gäste da, und zwar mehr, als es Sitzplätze gibt. Dort gönnt sich jemand ein Eis am frühen Vormittag, da drüben isst ein anderer ein Fischbrötchen und zwischendrin wird Kuchen geschlemmt und Kaffee getrunken.
»Moin. Du kommst spät«, begrüßt mich Timm. Er ist ein großer, schlanker Kerl mit freundlichen Augen und vollem Haar. In der Hand trägt er ein Tablett, auf dem Getränke stehen.
Ich nehme den Helm ab und wische mir die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Moin. Der Verkehr ist die Hölle heute! Ich dachte, Markt ist nur mittwochs und samstags?«
Er runzelt die Stirn. »So ist es auch. Merkwürdig. Bei mir ist heute auch mehr los als sonst. Aber ich will mich nicht beschweren.«
»Was hast du für mich?«
»Einen Moment, ich will noch kurz den Tisch fertig machen.«
Wir treffen uns im Verkaufsraum des Leuchtturms. Hier hat Timm die Auslage seiner wunderbaren Köstlichkeiten. Himbeer-Joghurt-Törtchen, Mangoflan, Tiramisu, Schokoladenkuchen. Dazu der himmlische Duft von frisch gebrühtem Kaffee und heißer Schokolade. Es ist ein Traum. Sollte sich der Job bei Ida in Luft auflösen, werde ich Timm fragen, ob ich bei ihm arbeiten kann. Wenigstens bis sich bei mir etwas Neues ergibt.
»Deine Auslage sollte verboten werden, Timm – das sieht alles so lecker aus. Bis auf die Fischbrötchen.«
»Du bist eine Landratte, Greta! Das sind meine Bestseller: Leckerer Fisch von Ulf. Jeden Morgen frisch aus dem Meer.«
»Deine Bestseller? Im Ernst?«
»Absolut. Wie sieht’s im Hotel aus?«
»Ruhig. Nichts Neues. Ich hoffe auf ein paar Rad-Touristen oder Wanderer. Ich will ein Schild aufstellen und Kaffee und Kuchen bewerben. Vielleicht bleibt dann sogar jemand spontan über Nacht.«
»Gute Idee. Ich hab euch trotzdem nur eine Kleinigkeit zusammengestellt.«
»Danke dir. Was mach ich mit den Resten?«
»Selbst essen? Gut gekühlt kannst du sie morgen noch verkaufen. Aber beeil dich mit dem Rückweg, sonst ist die Sahne hin.«
Zügig zurückzukommen ist leichter gesagt als getan. Obwohl mir Timm die Kuchen in eine Kühlbox gelegt hat – sechsunddreißig Grad machen die beste Kühlbox fertig. Für die eigentlich kurze Fahrt zurück ins Hotel brauche ich sogar noch länger als auf dem Hinweg. Sage und schreibe eine Stunde stehe ich auf der Straße nach Rerik hinein und als ich ins Haus sprinte – die Kühlbox vor mich haltend wie einen Schatz – um die Torte in den Kühlschrank zu stellen, ist es längst zu spät. Die komplette Sahne ist zerlaufen und riecht unangenehm. Was auch auf meinen körperlichen Zustand zutrifft. Der Schweiß läuft mir in Bächen den Rücken hinab.
»Scheiße.« Missmutig sortiere ich wenigstens den Schokoladenkuchen raus – das einzige, das der Hitze standgehalten hat. Drei Stücke, das ist alles, was mir für meinen spontanen Kuchenverkauf geblieben ist. »Na gut. Dann backe ich eben selbst.«
Doch in einer Küche, die lediglich auf Frühstück ausgerichtet ist, ist das gar nicht so einfach. Immerhin finde ich Mehl, Zucker, Eier und Butter. Daraus sollte sich doch etwas machen lassen.
Zwei Stunden später hocke ich in Jeansshorts, einem Bikinioberteil, Sonnenhut auf dem Kopf und mit dick eingecremter Haut unter einem Sonnenschirm und warte auf Kundschaft. Ich warte. Und warte. Und warte.
Aber in einer Sackgasse mitten im Nirgendwo kommt niemand zufällig vorbei. Es müsste nur noch ein Steppenläufer vorbeifliegen wie in den alten Westernfilmen und mein Unglück wäre perfekt. Wenn jetzt zwei Cowboys kämen – die Hände über den Halftern ihrer Waffen, die Finger zuckend – ja, das wäre mal eine Abwechslung. Ich höre förmlich die Musik, sehe Clint Eastwoods verwegenen Blick unter dem schattenspendenden Cowboyhut.
Gegenüber bei Emmas Eltern, den Landaus, geht die Tür auf und Mama Claudi tritt auf die Terrasse. Sie trägt ein überlanges, luftiges Oberteil und einen alten Strohhut, der an der ein oder anderen Stelle schon sehr ausgefranst ist. In der Hand hält sie ein Glas mit roter Flüssigkeit. »Huhu«, ruft sie schon auf dem Weg zum Tor.
»Hallo Claudi.«
»Wie laufen die Geschäfte?«
Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, ohne vulgäre Sprache zu benutzen, also sage ich nur: »Noch nichts verkauft.«
»Oh. Läuft also scheiße«, sagt sie mit einem kritischen Blick auf die Auslage. »Hier hast du eine Himbeerlimonade. Eigene Ernte. Ulli!«, ruft sie ins Haus und irgendwo aus dem Inneren tönt es zurück: »Was?«
»Komm mal rüber und bring das Portemonnaie mit! Was willst du denn für ein Stück haben?«, fragt sie mich.
»Der Ausverkauf hat gerade begonnen. Ein Euro.«
»Ach? Na das ist ja ein glücklicher Zufall. Ulli! Bring die Klappstühle mit! Wir leisten dir ein wenig Gesellschaft, Kind.«
Als ihr Nicht-Ehemann Ulli auftaucht – Emma hat mir mal erzählt, dass sich die beiden haben scheiden lassen, als sie Teenager war, und seither in wilder Ehe zusammenleben – schlägt er zwei Klappstühle mit Blickrichtung zur Straße hin auf und kauft mir die drei Stück Schokoladenkuchen von Timm ab. Eines für jeden von uns drei. Ich denke, das ist der wirtschaftliche Tiefpunkt meines Kuchenverkaufs – meine Kunden laden mich zu meinem eigenen Kuchen ein. Für drei Euro. Wo doch das Stück im Einkauf schon bei drei Euro lag. Sechs Euro Verlust also. Ida wird glatt spontan gebären, wenn sie davon erfährt.
»Läuft grad nich jut im Hotel, wa?«, fragt Ulli beiläufig und beißt in sein Kuchenstück.
»Nee. Liegt an den gefälschten Google-Bewertungen.«
»Kriminelle Online-Mafia«, resümiert er.
Ich nicke und schlürfe an meiner Limonade. »Lecker.«
»Ich könnte dir für morgen einen Krug bereitstellen. Dann kannst du Limonade anbieten, Kind.«
Für einen kurzen Moment lasse ich mir die Idee ernsthaft durch den Kopf gehen. »Danke, Claudi. Aber ich glaube, was das Hotel braucht, sind Gäste. Keine Limonade.«
»An Weihnachten haben wir die Familie eingeladen. Die buchen wir bei Ida ein. Versprochen.«
»Danke. Ich befürchte nur, bis Weihnachten wird sie mich nicht halten können.«
»Wann kommt das Baby?«
»Es kann jederzeit so weit sein.«
»Aber sie kann doch unmöglich mit einem so kleinen Wurm das Hotel allein leiten?«
»Das hatte sie auch nicht vor.«
Wieder schweigen wir. In diesem Moment fährt ein schwarzer Van mit getönten Scheiben die kurze Straße entlang.
»Wer ist das denn?«, frage ich. Denn wenn es einer weiß, dann die Landaus von gegenüber. Oder der alte Peda von nebenan. Auch der rührt sich in der Liege auf seiner Veranda und spickt neugierig auf die Straße. Komisch. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er draußen ist. Ob der mich die ganze Zeit über beobachtet hat? Wahrscheinlich …
»Keine Ahnung. Noch nie jesehn.«
Der Van hält direkt vor unserer kleinen Klappstuhlgesellschaft an und auf der Beifahrerseite steigt ein hoch gewachsener Mann mit Basecap, verspiegelter Sonnenbrille und Hawaiihemd aus. Skeptisch blickt er sich um, betrachtet die Nachbarschaft, das Hotel in unserem Rücken und schließlich uns. »Tach.«
»Moin«, antworten wir drei unisono.
»Wo finde ich den Chef dieses Hauses?« Er nickt in Richtung Hotel.
Ich stelle meine Limonade ab und erhebe mich. »Steht vor Ihnen.«
Er mustert mich von Kopf bis Fuß als stünde sein wahrgewordener Albtraum vor ihm. »Scheiße, dann stimmen die Rezensionen auf Google also …« Mit einer Geste zu seinem Fahrer dreht er sich um und will abhauen, aber ich wittere ein Geschäft. »Die Rezensionen sind gefaked und die Chefin aktuell in Mutterschutz. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Er spielt mit seiner Unterlippe und sieht noch einmal kritisch das Haus hinter mir und schließlich die Nachbarn auf den Klappstühlen und Peda in der Liege an. »Ich muss allein mit Ihnen sprechen.«
Merkwürdig. Aber gut. Menschen mit Geheimnissen sind in der Regel bereit, etwas mehr Kohle springen zu lassen. »Folgen Sie mir.«
Trotz der Hitze riecht er nach teurem Parfüm statt Sonnenmilch. Was auch immer dieser Mann in Rerik macht – Urlaub ist es nicht. Ich führe ihn in unseren Aufenthaltsraum und biete ihm den Platz an der Empfangstheke an, aber er lehnt mit einer Handbewegung ab.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Wie viele Gäste beherbergen Sie aktuell?«
Hm. Null. Aber wie seriös wirkt das denn bitte? Nicht sehr. »Wir halten die Zimmer für eine Gesellschaft vor … ähm …«, ich blicke in das Buchungsjournal das selbstverständlich leer ist, halte es aber so, dass er die Seiten nicht sehen kann. »Am Wochenende erwarten wir, ausgebucht zu sein. Ab Montag ist wieder was frei.« Das sind zwei Nächte. Der Gute wird doch bestimmt zwei Nächte warten können.
Doch er nuschelt »Mist« und klopft frustriert auf den Thresen.
»Warum sagen Sie mir nicht einfach, was Sie brauchen, und ich sehe, was ich für Sie tun kann?«
»Im Internet steht, Sie haben hier acht Doppelzimmer, ist das korrekt?«
»Ja.«
»Ich brauche alle acht. Für den kompletten August.«
»Den kompletten …? Okay, ähm … Verstehe.« Mist! Mist, Mist, Mist! Wie bekomme ich das jetzt geradegebügelt? Er hält mir die Hand hin, um sich zu verabschieden, und ich stehe auf, tippe dabei unauffällig auf dem Handy, das vor mir liegt, herum.
»Danke trotzdem.«
»Für nichts. Leider.« Da klingelt das Hoteltelefon. Bingo. »Oh, einen Moment, bitte. Ich bringe Sie gleich raus.«
»Ich finde den Weg, danke.«
»Nein, nein, warten Sie …«
Verdammt, er läuft schon raus, ich muss mich beeilen. »Hotel Ida, was kann ich für Sie tun? … Ach, hallo! … Was? Abgesagt?«
Die Tür schließt sich bereits, ich befürchte, er hat es nicht mehr gehört. Er ist schon mitten auf dem Hof, auf den die Sonne unerbittlich scheint und die Kieselsteine blenden, als ich die Haustür aufreiße.
»Sie! Entschuldigen Sie!«
Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um. Etwas atemlos komme ich vor ihm zum Stehen. »Das war die Gesellschaft. Abgesagt. Die Frau wurde in der Hochzeitsnacht von ihrem Bräutigam betrogen.«
»Oh. Das ist ja ein Zufall.«
»Ein glücklicher.«
»Sehr glücklich, ja. Für beide Seiten, wie mir scheint. Wir kommen ins Geschäft?«
»Ja! Sie werden es hier lieben.«
»Das glaube ich kaum. Aber es muss reichen. Wenigstens, um die nächste Zeit zu überbrücken. Machen Sie alle Zimmer fertig. Wir brauchen jedes Bett.«
»Also sechzehn Gäste?«
»Nein. Fünf Einzelzimmer, zwei Doppelzimmer. Schaffen Sie das in zwei Stunden?«
»Natürlich.« O Gott, niemals!
»Wir kommen ab siebzehn Uhr an. Kann man hier ungesehen parken? Hinter dem Haus vielleicht?«
»Sie wollen nicht, dass man Ihr Auto sieht?«
»Zwei Autos. Der Van und noch ein weiterer.«
»Wir haben eine Scheune. Da können wir sie verschwinden lassen.«
»Wie weit ist es von der Scheune bis ins Haus?«
»Nicht weit. Der Eingang ist direkt gegenüber, sehen Sie.« Ich zeige auf die alte Scheune neben uns. Sie steht direkt neben Idas todschickem Yoga- und Bewegungszentrum. Ein sehr ansehnlicher Scheunenausbau, in dem Ida ihre Kurse gibt und YouTube-Videos dreht. Jedenfalls tat sie das bis vor kurzem noch. Bis es nicht mehr ging.
»Gut. Stellen Sie sicher, dass das Scheunentor offen ist, wenn der erste Wagen kommt.«
»Alles klar. Ähm, eine Frage: Sie sind aber nicht von der Mafia oder so, nein?«
»Wäre das ein Problem?«
»Ähm …« Der August hat noch drei Wochen. Drei Wochen mal acht Zimmer pro Nacht – ich würde sagen, dieses Opfer meiner Sicherheit muss ich für das Überleben des Hotels wohl bringen. »Nein. Kein Problem. Bis in zwei Stunden dann.«
Er greift nach seinem Portemonnaie in der Gesäßtasche, öffnet es und reicht mir eine Karte. »Hier ist meine Nummer. Falls etwas dazwischenkommen sollte.«
»Danke.«
Damit verschwindet der Kerl in seinen klimatisierten Van zu seinem sehr groß und breit aussehenden Fahrer. Ich spicke auf die Visitenkarte. Universal Music Management steht in kursiven Lettern darauf. Jason Scott – Manager. Ich habe keinen Akzent rausgehört. Vielleicht ist das nicht sein richtiger Name. In der Branche kenne ich mich ein bisschen aus – immerhin zählten viele unserer Kunden zur Musikbranche. Echte Namen waren dort eine Seltenheit. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass ich hier die Karte zu einem potenziell neuen Job in der Hand halte. Wer auch immer Jason Scott ist, was auch immer seine Aufgabe hier in Rerik ist – vielleicht ist er mein neuer Arbeitgeber. Ich sollte dringend alles tun, um dieses Hotel für seine Gäste auf Vordermann zu bringen. Dringend. Zwei Stunden. Fuuuuuuuck! »Claudi! Ulf! Hilfe!!!!«
Kapitel 3
Als der erste Van vorfährt, bin ich komplett durchgeschwitzt. Ich lasse Claudi und Ulf über die Seitentür aus dem Hotel und obwohl sie sich in Richtung der Scheune beinahe die Hälse verrenken, bewegt sich darin nichts und niemand. Der Van steht still. Der Motor ist aus. Gebannt blicke ich von der Haustür in die Scheune. Irgendwie kann ich noch nicht fassen, was passiert. Ich habe die Ausbuchung bereits ins System eingetragen, was zur Folge hatte, dass mich eine völlig panische Annie angerufen und darauf aufmerksam gemacht hat, dass irgendwas mit der Webseite nicht stimmt. Als ich ihr unter größtem Stress bestätigte, dass ich alle Zimmer bis zum Ende des Monats vermietet habe, ist sie spontan in Jubel ausgebrochen – eine für die sonst eher kühle und distanzierte Annie vollkommen untypische Reaktion. Bei all dem Stress bat ich sie, Ida Bescheid zu geben – auch darüber, dass meine Gäste unerkannt bleiben wollen, was sie gerne tat. Jetzt hoffe ich nur, dass sich die beiden zurückhalten und nicht neugierig irgendwelche Sachen ins Hotel bringen, die wir vielleicht brauchen könnten – Toilettenpapier, Spüllappen oder Sonstiges.
Aber nun gilt es, abzuwarten. Wer sind die Gäste? Hoffentlich keine Mafiosi auf der Suche nach einem Harem – und ich in der Hauptrolle. O Gott, bitte nein. Plötzlich fallen mir die News von Access Hollywood wieder ein. Wicked Womb an der Ostsee. Könnten Wicked Womb …? Nein. Das kann nicht sein. Die angesagteste Rockband der Welt würde niemals – niemals – an die Ostsee kommen, um dort an ihrem neuen Album zu arbeiten. Noch nie ist irgendein bekannter Pop- oder Rockstar an die Ostsee gereist, um Songs zu schreiben. Nicht, dass ich wüsste, jedenfalls.
Endlich tut sich was in der Scheune. Fahrer und Beifahrer steigen aus und schauen sich nach allen Seiten um, als wären sie auf der Suche nach etwas oder jemandem. Einer nickt mir zu und bleibt vor der Scheune stehen. Der andere geht zur hinteren Tür am Van und öffnet sie. Männliche Stimmen dringen in einem wilden Wirrwarr nach draußen.
»Puh, endlich frei.«
»Alter, ist das heiß hier.«
»Kann mir mal einer helfen, bitte?«
Ein extrem merkwürdiger Anblick bietet sich mir. Drei Typen steigen aus, einer schöner als der andere. Ein Gesicht perfekter als das nächste. Der eine groß und breit gebaut mit einer schwer wirkenden schwarzen Tasche über der Schulter, der nächste schlank und ebenfalls groß, in der Hand einen Gitarrenkoffer. Der Dritte tätowiert, die Haare wild zu allen Seiten abstehend und Drumsticks in der Hand, die er nervös gegeneinanderschlägt. Himmel, würde mir das ständige Getrommel auf die Nerven gehen … Jeder von ihnen trägt außerdem eine Reisetasche bei sich.
»Zügig jetzt, los«, weist sie einer der breitschultrigen Begleiter an und im Gänsemarsch traben sie mir entgegen. »Weg freimachen!«, weist mich der vordere der beiden breiten Männer im Kommandoton an und ich stolpere brav zur Seite. Die ganze Aktion hat nicht länger als einen Wimpernschlag gedauert und ich habe fünf sehr kuriose Gestalten in dem kleinen Hotel an der Ostsee im Gemeinschaftsraum stehen. So neugierig, wie ich die fünf betrachte, so neugierig sehen sich meine Gäste um. Mir wummert das Herz bis in die Kehle. Das sind verdammt nochmal drei Mitglieder von Wicked Womb! Wicked fucking Womb! Taylors Band! Aber von Taylor keine Spur.
»Ähm … herzlich willkommen in Idas Hotel. Seid ihr vollzählig?«
»Nein«, antwortet einer der bulligen Typen. »Die Nachhut folgt in«, er blickt auf seine Armbanduhr, »fünfundzwanzig Minuten.«
»Gut. Prima.« Himmel! In der Nachhut wird doch wohl nicht etwa Taylor sein?!
»Gibt’s hier nen Pool?«, fragt der Tätowierte mit den Drumsticks. Soweit ich weiß, heißt er Elliott.
»Nein.«
»Ein Fitnessstudio?«
»Nein.«
»Sauna?«
»Nein.«
»WLAN?«
»Das ja. WLAN haben wir.«
Die drei entspannen sich.
Einer der beiden Bulligen tritt vor. »Mein Kollege und ich müssen das Gebäude sichern. Haben Sie Videokameras installiert? Innerhalb oder außerhalb des Gebäudes?«
»Nein.«
»Gut. Unterlassen Sie jegliche unautorisierte Anbringung. Weitere Instruktionen folgen.«
Der groß gewachsene Sänger mit den dunklen Haaren tritt vor und schüttelt mir die Hand. »Darf ich uns erstmal vorstellen? Das sind Rick und Trevor – unsere Bodyguards. Der Verrückte mit den Drumsticks ist Elliott. Dann haben wir Eric und ich bin John.«
»Schön euch kennenzulernen. Ich bin Greta. Eure Gastgeberin für die nächsten drei Wochen.«
»Gibt’s hier was zu essen?«, fragt Elliott und trommelt mit den Sticks rhythmisch auf die Küchentheke.
»Bis ich etwas für euch aufgetrieben habe, kann ich mit Kuchen aushelfen. Einen Moment.«
»Kuchen?«, ruft Eric. »Geil! Die Chance sollten wir nutzen, bevor Jason und Lucy Wind davon bekommen.«
Die anderen beiden stimmen ihm zu und binnen Sekunden habe ich drei Fünftel von Wicked Womb am Küchentresen sitzen, begierig auf ein Stück meines selbstgebackenen Kuchens.
»Lasst es euch schmecken.«
»Danke!«, antworten sie unisono und es klingt wie lange einstudiert und bereit, auf einem Album verewigt zu werden. Wie kann man nur gleichzeitig so verdammt gut aussehen und auch noch gut klingen?
»Was gibt’s zum Abendessen?«, fragt Elliott.
»Er ist der Verfressenste unter uns«, erklärt Eric.
»Ach, echt? Merkt man gar nicht.«
John und Eric lachen, Elliott schiebt sich ein großes Stück Kuchen in den Mund. Ich glaube, ich habe doch nicht umsonst gebacken.
»Was wollt ihr denn zum Abendessen haben?«
»Hummer.«
»Paella.«
»Ach, so eine Platte mit verschiedenem Käse und einer Brotauswahl würde mir genügen.«
»Also Hummer, Paella und eine Käseplatte. Alles zusammen oder können wir uns auf eine Sache einigen?«
»Alles zusammen«, antworten die drei unisono.
»Vergesst es. Ich bin Hotelmanagerin, keine Köchin.«
»Habt ihr keinen Koch hier?«, fragt Eric und starrt mich an, als sei es absolut unmöglich, ein Hotel ohne Koch zu führen. Gut, ein normales Hotel ohne Koch kann ich mir auch nicht vorstellen. Aber die drei und ihre Begleiter sind ja nicht in irgendeinem Hotel untergekommen. Sie sind in Idas Hotel. Und da ist nur für Frühstück, Kaffee und Kuchen gesorgt.
Ich zeige mit ausladender Geste auf Idas Einbauküche. »Diese Küche serviert, was ihr euch zubereitet.«
»Ist das ein Scherz?«, fragt Elliott.
»Kein Scherz. Aber ich gehe nachher für euch einkaufen. Und danach wüsste ich gerne, was zum Henker fünf Weltstars wie ihr in diesem Kaff machen.«
»Die Antwort darauf wüsste ich auch gerne«, sagt Eric.
Wie sich herausstellt, ist es für meine Gäste schwieriger, sich auf ein gemeinsames Abendessen zu einigen, als ein neues Lohnpaket für Lokführer auszuhandeln. Es wurde kräftig gestritten, mit dem Rest der Band – Taylor? – telefoniert und schließlich vom anderen Ende der Leitung – Taylor? – eine Entscheidung gefällt. Paella soll es sein. Bitte schön. Mit dem Rad fahre ich nach Rerik und hoffe, damit dem Verkehr in dem kleinen Ostseestädtchen ein Schnippchen zu schlagen. Durch all den Verkehr ist es unmöglich, das Rauschen des Meeres zu hören. Sonst ist dieses Geräusch ein verlässlicher Begleiter, aber nicht heute. Heute knattern Motoren, dröhnen Hupen und überhaupt herrscht ein schrecklich gestresstes Treiben in der Stadt.
Selbst in Gertis Supermarkt ist vergleichsweise die Hölle los. Sage und schreibe zehn Kunden sind in den engen Gängen unterwegs. Die meisten davon junge Mädels, gerade mal volljährig. Manche von ihnen noch nicht ganz volljährig, aber dafür in Begleitung eines genervt aussehenden Erwachsenen – eines Vaters, nehme ich an.
Um so wenig Zeit wie möglich in dem Laden zubringen zu müssen, jage ich von einem Regal zum nächsten, in bester Slalom-Manier an den anderen Kunden vorbei, und stehe gerade an der Fischtheke, als das Handy einer jungen Frau in Begleitung einer ebenso jungen Frau klingelt. Sie stehen so dicht bei mir, dass ich sogar das Gekreische am anderen Ende des Telefons hören kann.
»Ich hab ihn gesehen!«
»Wen?«, fragen die Mädels und sprechen damit aus, was ich mich bei dieser Aufregung genauso frage.
»Taylor Weeeeeest!«, kreischt es auf der anderen Seite des Apparats. »Er kam aus dem Hotel und hat ganz viele Autogramme gegeben und sogar Selfies mit uns gemacht.«
»Du hast ein fucking Selfie mit fucking Taylor Weeeeeest?« Unschöne Formulierung. Ob sich die Jugend von heute in ihrem beruflichen Alltag ebenfalls mit Fäkalsprache durchkämpft? Das sind abgefuckt schlechte Zahlen in diesem Quartal. Oder: Ihre Bewerbungsunterlagen sind fucking awesome. Vielleicht sollte ich mein Anschreiben aufpeppen – sorry: pimpen.
»Ja, verdammt! Taylor Weeeest!« Das Gekreische am Handy wird immer lauter. Dieses Mädchen ist komplett aus dem Häuschen.
»O fuck, ist das awesome! Okay, wir kommen sofort zurück zum Hotel. Halt ihn auf, ja?«
»Der ist schon wieder rein.«
»Schon wieder rein?«
»Ja. Hat gesagt, wir sollen unsere Zelte aufschlagen und schlafen gehen. Rerik und dessen Bewohner, hat er gesagt, brauchen ihre Ruhe.« Wo er recht hat …
»Fuck! Wir haben Taylor West für ein paar Dosenwürstchen und ne Packung Chips verpasst? Ich fasse es nicht! Fuck, fuck, fuck!«
Mit den Worten der jungen Damen neben mir: Fuck. Fuck. Fuck. Taylor West, der Taylor ehemals Müller West ist tatsächlich in Rerik. Natürlich ist er das. Die Band – seine Band – arbeitet an ihrem neuen Album nicht ohne ihren Leadsänger. Es dennoch so bestätigt zu bekommen, trifft mich hart. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein bester Freund aus Jugendzeiten tatsächlich in diesem kleinen Hotel an den Dünen auftaucht?
Heute Morgen: verschwindend gering. Jetzt: verdammt hoch.
Ich werde Taylor wiedersehen. Nach so vielen Jahren. Nach dem Kuss. Nach den vielen Jahren der Stille. Nach der neuen Handynummer, die er mir nicht weitergegeben hat. Was wird er sagen, wenn er mich sieht? Wird er mich überhaupt wiedererkennen? Was, wenn nicht? Soll ich ihm dann sagen, wer ich bin? Lieber nicht. Er wollte mich eindeutig nicht mehr in seinem Leben haben. Und wer weiß: Wenn er mich nicht erkennt, steigen dadurch vielleicht meine Chancen, dass wir wieder Freunde werden. Ob ich ihm in dem Fall einen anderen Namen nennen sollte? Habe ich den Jungs und dem Manager schon meinen Namen genannt? Wahrscheinlich kennen ihn die Bodyguards nach ihrem Background-Check längst.
Okay. Tief durchatmen. Taylor wird mich nicht wiedererkennen. Es ist zu lange her. Und er hat mittlerweile zigtausend andere Menschen kennengelernt. Da vergisst man schon mal das Teenager-Mädchen mit der Zahnspange, mit dem man als Kind im Sandkasten Star Wars Episode IV nachgespielt hat.
Ich nehme noch einiges an Obst und Gemüse mit – so viel wie in meinen Fahrradkorb passt – und gehe zur Kasse.
»Moin Gerti.«
»Moin. Wer sind Sie nochmal?«
Ich sehe auf. »Greta. Die Vertretung von Ida Kohnke. Im Hotel am Wäldchen.«
»Ach, die schwangere Frau vom Bürgermeister?«
»Ja. Genau. Die vertrete ich. Wir sehen uns jetzt wahrscheinlich öfter.«
»Ach? Aber wenn S’e doch keine Gäste ham, wer soll dat denn dann allet essen, Mädsche?«
Oh. Nach einer Antwort suchend betrachte ich meinen vollgepackten Einkaufskorb. »Ein Wicked-Womb-Fanclub hat sich bei uns eingemietet.«
»Können sich nix Bess’res leisten, wa?«
Autsch! War das gerade eine Beleidigung gegen Idas schnuckelig-schickes Hotel? »Kann ja nicht jeder im Reriker Hotel unterkommen.«
»Stimmt«, sagt ein Mädchen hinter mir an der Kasse. Der Mann neben ihr ist eindeutig ihr Vater – man sieht es an den Augenbrauen und der Kinnpartie. »Das können nur Wicked Womb! Und die haben eine komplette Etage gemietet, sagt ein Mitarbeiter des Hotels. Wenn es dunkel wird, kann man Silhouetten an den Fenstern vorbeilaufen sehen.« Ihr Lachen klingt aufgeregt, beinahe hysterisch.
Gerti und ich sehen uns an. In Gertis Gesicht spiegelt sich mein Gedanke: Die spinnen, diese Mädchen.
Ich bezahle und lade meine Einkäufe in den Fahrradkorb und die Satteltaschen. Dann macht mein Herz einen Sprung, denn für eine Millisekunde musste ich an ihn denken. Und daran, dass er womöglich bereits da ist, wenn ich zurückkomme.
Nein, er ist noch nicht da. Dafür regnet es wieder. In Strömen. Ein richtig ordentlicher Regenschauer inklusive Blitzen und Donner. In dem kleinen Hotel an den Dünen riecht es lecker nach Paella, die Jungs haben sich auf ihre Zimmer verzogen und ich decke den Tisch. Ich glaube, Taylor und sein Band-Kollege kommen heute gar nicht mehr. Bei dem schlechten Wetter werden sie sich wohl kaum auf den Weg machen. Sie werden lieber in ihrer schicken Hotelsuite übernachten, die Badewanne mit Whirlpool-Funktion genießen, von der mir Elliott erzählt hat, und am Morgen eine Runde im Pool schwimmen. Dieses verdammte Reriker Luxus-Hotel. Ob die das doch mit den Google-Bewertungen waren? Wenn ja, wie könnte man ihnen das nachweisen?
Plötzlich klopft es hektisch an der Haustür. Ich erschrecke mich zu Tode und eines der beiden Gläser, die ich gerade zum Tisch trage, fällt mir aus der Hand und zerspringt in tausend Scherben. »Mist, verdammter!« Vielleicht ist das Simon von nebenan. Manchmal geht eines seiner Pferde verloren und dann sucht er die gesamte Nachbarschaft ab. Bei diesem Wetter würde es mich nicht wundern, wenn ihm eines seiner Tiere abgehauen wäre. »Moment! Ich komme gleich!«
»Tür aufmachen!«, verlangt er.
»Meine Güte, geht das auch in freundlich?« Ich reiße die Tür auf in absolut sicherer Erwartung, dass es nur Simon sein kann. Doch da stehen andere Personen. Mir völlig fremde. Bis auf einen. Und der sieht mich aus warmen, honigbrauen Augen an, als wäre ich eine Fleisch und Blut gewordene Erscheinung aus einem Märchen. Für einen Moment steht die Zeit still. Der Regen erstarrt, der Blitz hält ein. Ich nehme nichts wahr außer ihm. Sehe nur diese vertrauten, honigbraunen Augen, die vor Nässe tropfenden dunklen Haare und das weiße Hemd, das vollkommen durchnässt an seinem Oberkörper klebt. Ich kann wirklich alles erkennen: seine harten Brustwarzen, seine Bauchmuskeln, jede einzelne muskulöse Wölbung unter seinen Ärmeln.
»Wow«, hauche ich. O Himmel, habe ich das gerade laut gesagt?
»Allerdings, wow«, grummelt einer der beiden großen Kerle hinter Taylor und dem anderen Bandmitglied. Eindeutig weitere zwei Bodyguards. »Es regnet Bindfäden, wäre es also ein großes Problem, uns reinzulassen?«
»Äh, nein, nein, gar nicht. Entschuldigung, kommt rein.«
Ich trete beiseite und die vier tropfenden Gestalten treten ein und sehen sich neugierig um – bis auf einen. Einer hat nur Augen für mich. Und ich beschäftige mich schnell mit dem Auffegen der Scherben.
»Das ist es also«, sagt das fünfte Bandmitglied. »So schlimm wie Elliott meinte, ist es doch gar nicht.« Er sieht mich an und seine blauen Augen strahlen mit seinem blonden Schopf um die Wette. In diesen Kerl kann man sich wirklich nur verlieben. Jedenfalls wenn man vierzehn Jahre alt ist und auf blonde Jungs mit runden Wangen steht. Er ist eindeutig der Typ Nick Carter von den Backstreet Boys. John gleicht mehr Kevin, Elliott AJ. Und Taylor? Taylor ist einfach Taylor. Eine Nummer für sich.
»Hi, ich bin Aaron«, sagt der Blonde und reicht mir die Hand. »Elli ist verwöhnt. Aber mir gefällt es hier. Es riecht nach Essen. Und das ist Taylor. Aber mir scheint, meinen Bandkollegen kennst du schon?«
»Was? Wie kommst du darauf?« Woher weiß dieser Aaron, dass ich Taylor kenne? Hat Taylor ihm etwas erzählt? Aber Taylor kann nicht wissen, dass ich hier arbeite. Das ergibt keinen Sinn.
»Weißt du, die meisten Fans erstarren, wenn sie ihn sehen. Oder brechen in Tränen aus. Oder kreischen los. Da ist das Erstarren noch die beste Variante, glaub mir. Ist immer komisch, wenn sie einen ankreischen.« Er deutet auf seine Ohren.
»Nein, nein, ich bin nicht … ich kenne nicht … doch, also, schon, also …« Erde an Greta – bitte einen normalen Satz formulieren.
Aber da streckt mir Taylor die Hand entgegen und lächelt mich zurückhaltend an. »Wir kennen uns tatsächlich. Von früher. Vor meiner Zeit bei Wicked Womb.«
»Lange vor deiner Zeit bei Wicked Womb«, bekomme ich heraus und es klingt fast normal. Ich ergreife seine kühle, feuchte Hand und einen Moment, einen sehr langen Moment, stehen wir da und starren uns an, tauschen einen Blick, der tausend Worte bedeutet, der Fragen stellt und Antworten gibt und doch nur eines sagt: Ich habe dich vermisst.
Jedenfalls steht das garantiert in meinem Blick. Himmel, ja, ich habe Taylor vermisst. Ich hätte ihn gebraucht. Damals nach dem Abitur. Ich hätte gerne so vieles mit ihm geteilt und besprochen. Mein bester Freund seit Kindertagen war plötzlich weg und ich hatte niemanden mehr, an den ich mich wenden konnte.
»Hi Greta.«
»Hi Taylor.«
Er schmunzelt und sein Gesicht sieht einfach nur schön aus. Er sieht schön aus, wie er da so steht, ganz nass, lächelnd. Sein Gesicht hat sich verändert. Er ist ein Mann geworden. Seine Brust ist breiter, aber die Wangen schmaler. Das Haar kurz. Früher hat er es schulterlang getragen. Heute nicht mehr. Früher. Früher habe ich ihn nie so gesehen. So als könnte ich mir eine Beziehung mit ihm vorstellen. Nicht bis zu diesem Kuss jedenfalls. Danach war für mich alles möglich. Ich hätte ihn geheiratet, wenn er mich gefragt hätte. Ich küsse schließlich nicht jeden und es gibt Schlimmeres als den besten Freund zu heiraten. Heute aber sehe ich ihn anders. Heute ist er ein Mann mit einem verdammt hübschen Gesicht und einem noch verdammteren sexy Bauch.
»Okay, Kinder, rauf und umziehen. Wir wollen nicht, dass ihr euch eine Erkältung holt.« Das war Bodyguard Nummer zwei. Also vier. Vier Bodyguards für fünf Jungs.
»Kommt Jason noch?«
»Nein«, sagt Aaron. »Jason und Lucy halten in dem anderen Hotel die Stellung. Wir wurden rausgeschleust. Geheimaktion.« Er zwinkert.
»Geheimaktion?«
»Ja. Für den ersten Trupp hat Taylor die Fans abgelenkt und Autogramme gegeben. Für uns kam der Regen gerade recht. So konnten wir unbesehen fliehen.«
»Fliehen?« Ob ich heute noch mehr rausbekomme als Ein-Wort-Sätze?
Taylor antwortet mir und sein Blick brennt sich förmlich in meine Augen. »Wir dachten, unser Versteck in Rerik wäre sicher. Aber es wurde geleakt und das Hotel wurde gestürmt.«
»Taylors genialer Plan war doch nicht so genial. Zeigst du uns jetzt unsere Zimmer? Ich muss mir echt was Trockenes anziehen.«
Taylors genialer Plan?

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