
1
Als der Absatz meiner neuen Jimmy Choo High Heels in einem Lüftungsschacht stecken bleibt, weiß ich: Mein Leben geht endgültig den Bach runter. Mein Verlobter John hat mich nach fünf Jahren Beziehung verlassen, damit sind all meine Träume – mit dreißig verheiratet zu sein, eine Nanny und zwei Kinder zu haben – dahin. Und jetzt ruiniere ich mir auch noch die Schuhe.
»Den müss’n Se abbrechen«, sagt eine Frau mit breitem amerikanischem Akzent zu mir.
»Oh, fuck it«, fluche ich und versuche ein letztes Mal, mich zu befreien – keine Chance. Ich schlüpfe aus dem Schuh, knie mich daneben, ziehe, drehe, nichts bewegt sich.
Schließlich bricht der Absatz ab. Der Schuh ist frei, der Absatz steckt noch. Meine Feinstrumpfhose ist an den Knien zerrissen und mit Tränen in den Augen – was mein Mascara wohl dazu sagt? – breche ich auch den Absatz des zweiten Schuhs ab.
Im Bürogebäude an der 5th Avenue angekommen, starren mich die Leute an. Vermutlich gebe ich ein furchtbares Bild ab. Ich passiere den Eingang mit meiner Chipkarte und schlüpfe mit zwanzig weiteren Personen in den Aufzug.
»Miesen Start in den Tag gehabt?«, fragt mich eine Frau, die ich nicht kenne.
»Miesen Start in die Woche würde ich sagen.«
Sie nickt verständnisvoll. »Ich liebe Ihren Lippenstift.«
»Danke. Christian Dior, Nummer 80.« Ich ernte ein freundliches, aber reserviertes Lächeln, mehr Reaktion bekomme ich nicht. Verdammt. Da habe ich die oberflächliche Freundlichkeit der Amerikaner anscheinend mal wieder falsch eingeschätzt. Die Frau wollte einfach nur nett sein.
In der Etage des Beratungsunternehmens, für das ich arbeite, schlüpfe ich aus dem Fahrstuhl und schleiche direkt zu den Toilettenräumen, in der Hoffnung, von niemandem gesehen zu werden. Tja. Zu dumm, dass die Sekretärin des Chefs am Waschbecken steht und sich die Hände abtrocknet. Als sie mich sieht, scannt sie meinen Zustand mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Guten Morgen, Anne.« Normale Menschen würden fragen, ob ich überfallen worden bin. Aber diese Frau ist nicht normal. Sie ist ein Miststück, das mit jeder Neuigkeit sofort zum Chef rennt. Prima! Was wird er tun, wenn er von meinem Montagmorgen-Fauxpas hört? Mich feuern?
»Guten Morgen, Nadine. Entschuldige mich.« Ich dränge mich an ihr vorbei in eine Kabine. Erstmal will ich die Strumpfhose loswerden. Dummerweise habe ich keine Ersatzstrumpfhose dabei und die, die ich im Büro gelagert hatte, habe ich neulich gebraucht und noch nicht wieder ersetzt. Verdammter Mist! Also muss ich – was absolut nicht der Büro-Etikette entspricht – mit nackten Beinen umherlaufen. Immerhin ist mein Kleid knielang. Vielleicht fällt es niemandem auf. Die Schuhe sind dahin, da lässt sich nichts mehr retten. Vielleicht kaufe ich mir in der Mittagspause ein neues Paar. Keine Jimmy Choo – die konnte sich John für mich leisten, ich aber sicher nicht mit meinem Junior-Gehalt. Ich trete aus der Kabine und unterdrücke beim Blick in den Spiegel ein Kreischen. »Fuck! Fuckedifuck!« Flüche kommen einem auf Englisch so viel einfacher über die Lippen – ich liebe es. Mein Mascara hat sich theatralisch verflüssigt – und das soll wasserfest sein? Niemals! Der schwarze Eyeliner ist verschmiert und irgendwann muss ich mir in meiner Verzweiflung über den Mund gestrichen haben. Allmählich wird mir klar, was mir die Frau im Aufzug sagen wollte: Sie hat nicht die Farbe gelobt – sie hat mir einen dezenten Hinweis geben wollen, dass ich mir den Lippenstift bis an die Wange geschmiert habe! Holy fuck!
Ich schminke mich ab, so gut das mit Wasser und einem Papiertuch geht, und brauche keine zehn Minuten, um mein Gesicht wieder herzurichten. Dem Himmel sei Dank! In diesem Job – und bei diesem Chef – kann ich es mir nicht erlauben, mich gehen zu lassen. Weder darf ich montags so aussehen, als hätte mich mein Freund am Sonntag verlassen, noch als hätte ich mir auf dem Weg ins Büro die High-Heels zerstört. Ich muss perfekt sein. Meine Arbeit muss perfekt sein. Nicht weniger verlangt der Chef.
Zehn Zentimeter kleiner, aber doch mit aufgebautem Selbstbewusstsein, verlasse ich die Toilettenräume und gehe ins Büro, als wäre nichts Erwähnenswertes geschehen. »Guten Morgen, Clarisse.« Die Kollegin am Empfang hat sonst immer ein strahlendes Lächeln für mich übrig – heute jedoch nicht. Sie schaut mich kaum an. Im Büro sind die Kollegen auffällig damit beschäftigt, ihren Tätigkeiten nachzugehen – kein Hallo, keine Fragen nach meinem Wochenende, nichts außer Stille. Das ist merkwürdig.
»Guten Morgen, Leute. Alles gut bei euch?«, frage ich in die Runde, bekomme aber nur zögerliche Blicke.
»Anne, guten Morgen«, sagt eine männliche Stimme hinter mir. Ah, Wolf – unser Finanzchef. Wenn er was Süßes braucht oder sich einfach für ein paar Minuten unterhalten will, kommt er in unsere Abteilung, schnappt sich ein Bonbon und quatscht eine Runde mit mir. Mit mir, da ich direkt hinter den Süßigkeiten sitze. Doch heute greift er in die Schale und haut direkt wieder ab.
Was ist das nur für ein merkwürdiger Morgen? Ich zupfe meinen Blazer zurecht. Nadine erscheint in der Tür – wie üblich mit bissigem Blick. »Anne, Grant will dich sprechen.«
»Jetzt? Ich habe gar keinen Termin.« Wobei ich ehrlich gesagt letzte Nacht nicht mehr meine Mails gecheckt habe. Nachdem John seine Wohnung mit der Bitte verlassen hatte, ich möge all meine Sachen nehmen und verschwinden, bin ich vollkommen aufgelöst in der WG angekommen und habe mich bei den Mädels ausgeheult.
»Ja, jetzt«, sagt sie schnippisch. Ich muss dringend mit Grant über ihren Tonfall sprechen. Das geht wirklich gar nicht! Grant Thomson hat mich direkt nach dem Studium für seine Wirtschaftsprüfer-Agentur engagiert. Er ist ein Patriarch, wie er im Buche steht, aber eben auch der Beste seines Fachs. Drei Jahre hier und ich kann mir aussuchen, wohin ich gehen will. In die freie Wirtschaft? Anne Schreiber, wir nehmen Sie mit Handkuss! Eine leitende Position? Bitte sehr – wer es bei Grant Thomas geschafft hat, schafft es überall.
Mit Grant zu arbeiten, ist eine Achterbahn der Gefühle. Man weiß nie, ob der große Imperator den Daumen hebt oder senkt. Ich habe wirklich alles dafür getan, dass er von mir nur den besten Eindruck hat. Nur hatte ich leider etwas Pech mit diesem einen Kunden, bei dem so ziemlich alles schief gegangen ist, was schief gehen konnte, aber hey – das war ein Mannschaftsversagen. Ich habe zum gesamten Projekt nur einen kleinen Teil beigetragen. Der Rest war Teamversagen. Himmel, sogar Clarisse vom Empfang hat bei einem Besuch des Kunden vergessen, Kaffee und Kekse ins Besprechungszimmer zu stellen. Wir haben es alle gemeinsam verbockt – sogar mein Chef. Wo steckt der eigentlich?
Ich schnappe mir mein Laptop und betrete das Besprechungszimmer. Auf dem Tisch stehen Lilien. Ich mag Lilien eigentlich nicht. Oma sagte immer, sie bedeuten königliche, tiefe Gefühle. Ich finde, sie stehen für Arroganz. Hier bei Grant Thomson stehen überall Lilien. Aber Grant Thomson ist ja auch die Königsagentur unter den Wirtschaftsprüfern. Hier passen sie hin.
Die Tür geht auf und mein Chef Toni betritt den Raum.
»Setz dich, Anne«, sagt er und klingt dabei sehr ernst.
»Guten Morgen. Wie geht’s dir, Toni?«, frage ich, denn er quält sich seit Wochen mit einer fiesen Erkältung. Wir tippen auf die Klimaanlage. Ich wähle den Platz gegenüber.
»Geht schon. Langsam habe ich das Gefühl, es ist eine Allergie. Auch wenn ich die noch nie hatte …«
»Guten Morgen, zusammen.«
»Guten Morgen, Tracy.« Tracy ist die Personalchefin. Toni und sie haben mich vor fünf Monaten eingestellt.
»Bin ich im falschen Raum? Nadine meinte, ich hätte einen Termin mit Grant.«
Toni und Tracy werfen sich einen kurzen Blick zu. »Grant hat uns gebeten, den Termin zu übernehmen.«
»Oh, okay. Worum geht’s?« Ich lächele freundlich.
»Anne, dir ist ja sicher klar, welche Kündigungsrechte es bei uns in den USA gibt«, sagt Toni. »Wir haben lange diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir den Vertrag mit dir kündigen wollen.«
Toni und Tracy sehen mich mit ernster Miene an. Aus meinem Lächeln wird ein Lachen. »Guter Scherz, Leute, ihr habt mich voll erwischt. Dabei ist mein Wochenstart so schon die Hölle. Mir ist heute Morgen mein Absatz abge…«
»Das ist kein Scherz, Anne. Wir kündigen dir.«
Das Lachen verschwindet, wird zu einer Grimasse, über die ich keine Kontrolle mehr habe. Selbst meine Atmung kann ich nicht kontrollieren. Sie bleibt mir irgendwo im Hals stecken.
»Warum?«, ist das Einzige, das ich herausbekomme, und während Toni irgendwas erzählt von »Wir haben eine Führungspersönlichkeit gesucht, keine Arbeitsbiene«, versuche ich, all der Stresshormone in meinem Körper Herr zu werden. Gar nicht so einfach, wenn einem gerade der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Was habe ich nicht alles für diesen Job geopfert! Erst habe ich in Köln studiert, dann in Harvard. Verdammt, ich war nicht da, als Oma gestorben ist, weil ich meine erste Arbeitswoche hatte. Statt Omas Hand zu halten, war ich in diesem Büro und habe sämtliche Akten zu den bestehenden Kunden förmlich inhaliert.
»Arbeitsbiene?«, frage ich mit zittriger Stimme.
Toni sieht mich emotionslos an.
»Aber ich verstehe das nicht … Du hast nie ein Wort gesagt.« Das tut er auch jetzt nicht. Tracy sieht ihn überrascht an, so als wäre sie davon ausgegangen, er hätte in fünf Monaten und zig Eins-zu-Eins-Terminen wenigstens einmal erwähnt, dass er mit meiner Leistung unzufrieden ist. Aber das hat er nicht. Kein Wort. Er ist immer mit allem zufrieden gewesen. Selbst als mit dem Kunden alles komplett schief gegangen ist, hat er die Schuld bei sich gesucht.
»Liegt es an dem Großkunden? Kündigt Grant mich deshalb?«
»Was mit dem Großkunden passiert ist, war tatsächlich das Unprofessionellste, das diese Agentur jemals abgeliefert hat …«
»Was das gesamte Team zu verantworten hat«, sage ich.
»Du siehst also nicht ein, dass du Fehler gemacht hast?«
»Doch. Doch, natürlich. Aber warum muss nur ich gehen?«
»Du willst ernsthaft anregen, dass wir deinen Kollegen kündigen? An deiner Stelle?« Tonis Blick ist zerstörerisch. Verletzend. Tödlich.
»Nein! Nein, natürlich nicht. Aber … ich habe gute Arbeit geleistet, ich war …«
Wann genau ist das passiert? Mir geht alles gerade viel zu schnell. Noch vor drei Tagen haben wir zusammen auf das Wochenende angestoßen und jetzt kündigt er mir?
»Warum hast du nie etwas gesagt, ich hätte …« In diesem Moment wird mir klar, was gerade passiert. Natürlich! Wie konnte ich so dumm sein! Der Großkunde ist Tonis Projekt gewesen. Grant war stinksauer. Deshalb hat er mich angebrüllt. Stellvertretend für Toni, der für zwei Tage – ausgerechnet an den Abschlusstagen des Projekts – außer Haus gewesen ist. Mein Gott, wie wütend Grant war! Er hat mit Kündigungen gedroht. Über die letzten sechs oder acht Wochen schien sein Ärger verdampft, aber jetzt erkenne ich meinen Irrtum. Er hat nur endlich den Kopf gefunden, der für das ganze Fiasko rollen muss – meiner!
»Du bist mit sofortiger Wirkung freigestellt. Hier ist das Kündigungsschreiben. Unterschreib bitte.« Tracy schiebt mir ein Blatt Papier über den Tisch. Ich lese, ohne wirklich zu verstehen, was da steht. Ich kann nur an eines denken: Ich bin gefeuert. Mir wurde gerade gekündigt. Mein erster richtiger Job und ich werde gekündigt. Mein Karrieresprungbrett ist eingestürzt, krachend in sich zusammengefallen. Meine Oma ist allein gestorben, weil ich lieber hier war, statt bei ihr zu sein.
Tränen wollen sich sammeln, aber nein, das lasse ich nicht zu. Das bekommen sie nicht von mir. Ich unterschreibe so groß und so schwungvoll, wie ich nur kann. Meine Hand zittert noch nicht mal.
»Gut, dann … viel Erfolg weiterhin«, sage ich und erhebe mich.
Beide nicken. »Danke.«
Sie wünschen mir noch nicht einmal Erfolg für meinen weiteren Weg. Und die verdammten Lilien verhöhnen mich.
2
»Gefeuert?« Aubrey starrt mich aus aufgerissenen Augen an. Ihre wilden, fuchsroten Locken wippen wie immer, während sie spricht. Jessica und Sarah sehen mich mitleidig an. Nur Sam verschränkt die Arme vor der Brust und blickt angriffslustig drein.
»Allerdings. Außerdem bin ich ab sofort freigestellt. Ich soll aber noch eine Übergabe vorbereiten – Kontakte, Projektstatusse, so Sachen halt.«
Sam prustet abschätzig. »Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht glaube, dass die Mehrzahl von Status tatsächlich Statusse ist, wirst du mit denen sicherlich keine Übergabe machen! Also bitte! Am besten backst du noch einen Kuchen zum Abschied, oder was? Die spinnen ja!«
»Was machst du jetzt?«, fragt Aubrey.
Ich zucke mit den Schultern. Diese Frage habe ich mir auf dem Weg vom Büro nach Hause auch gestellt – und keine Antwort darauf gefunden. »Einen Job suchen.«
»In New York?«, fragt Sarah.
»Auf jeden Fall! Wenn ich was Passendes finde. Keine Ahnung. Ich liebe New York! Aber es ist gut möglich, dass ich in dieser Branche nie wieder Fuß fasse. Immerhin ist Grant Thomson die größte Wirtschaftsprüfer-Agentur der USA. Ein Anruf bei denen und jeder weiß, dass ich gefeuert wurde.«
»Wer sagt, dass du es in deinen Bewerbungen angeben musst? Es waren nur fünf Monate. Die kannst du verheimlichen.«
»Verheimlichen? Ich habe einen verdammt guten Job gemacht und unglaubliche Erfahrungen gesammelt – das in meinem Lebenslauf nicht zu erwähnen, wäre dumm.«
Sam beugt sich vor und legt die Hand auf meine. »Süße, was ich dir jetzt sage, wird wehtun, aber einer muss es tun: Du wurdest zum Sündenbock gemacht. Du hast verloren. Okay? Und ganz egal, was du in deinen Lebenslauf schreiben willst – dein Zeugnis wird schlecht. Damit wirst du nirgendwo punkten können.«
Ich lehne mich auf der Bank zurück und Jessica legt mir einen Arm um die Schulter. »Mach dir keinen Kopf. Du bist so gut ausgebildet – jemand wie du findet immer was.«
»Und wenn’s ein Job als Barkeeperin ist«, sagt Aubrey.
»Absolut!«
»Danke, ihr beiden – ich weiß nicht, ob ich mich jetzt besser fühle.«
»Okay, du brauchst einen Plan«, sagt Sarah. »Das Wichtigste zuerst: Wie lange kannst du das Zimmer in unserer WG halten?«
Wir fünf wohnen seit ziemlich genau fünf Monaten zusammen. Nach der Jobzusage bei Grant Thomson habe ich dringend eine Wohnung gebraucht. Bei den Preisen war schnell klar, dass es zu nicht mehr als einem Zimmer in einer Wohngemeinschaft reichen wird. »So zwei, drei Monate etwa.«
Sarah nickt, als hätte sie mehr erwartet, wolle es aber nicht sagen, damit ich mich nicht noch schlechter fühle. »Okay. Gut. Zwei, drei Monate.«
»Ich dachte, du hast so gut verdient?«, wirft mir Sam an den Kopf. Von uns allen ist sie diejenige, die vermutlich die reichsten Eltern hat. Sie zahlen ihr das Zimmer, im Gegenzug soll sie schon bald die Firma ihres Vaters übernehmen – und einen Kerl heiraten, den sie nicht ausstehen kann. Ich denke, ich bin schlecht dran? Nope. Der Pokal geht an Sam.
»Ich habe ja auch gut verdient. Aber ich musste mir anständige Klamotten für den Job besorgen. Blazer, Anzüge, Blusen, Make-up. Das kostet.«
»Nicht zu vergessen, den Dyson.«
»Absolut! Den Dyson, von dem nicht nur ich profitiere.«
Alle am Tisch wirken etwas verträumt. »Meine Locken wären nicht die, die sie gerade sind, ohne den Dyson«, schwärmt Aubrey.
»Wir sind dir ewig dankbar, dass du ihn in unsere Wohngemeinschaft eingebracht hast«, sagt Jessica und grinst. Die Wellen in ihrem Haar verdankt auch sie meinem professionellen Haartrockner.
»Vielleicht sollten wir die Anschaffungskosten durch fünf teilen«, schlage ich vor. »Dann kann ich mir einen dritten Monat auf jeden Fall leisten.«
»Wenn, dann durch vier – von mir kommt immerhin die Küchenmaschine«, sagt Sam.
»Das ist ein gutes Argument.«
»Okay, Schluss jetzt«, sagt Aubrey und hebt ihr Glas. »Stoßen wir an auf Annes Neuanfang. Es wird anders, vielleicht sogar besser. Auf jeden Fall bleibt nichts, wie es war. Und die bei Grant fucking Thomson haben dich und deine Arbeitskraft gar nicht verdient. Cheers, Ladys.«
»Cheers«, erwidern wir und Aubreys Worte hallen für den Rest des Abends in meinem Kopf nach.
Der Morgen danach – schon wieder ein Morgen danach – war nicht erst gestern der Morgen, nachdem John Schluss gemacht hat? Und jetzt ist also der Morgen, nachdem mir gekündigt wurde. Mehr muss ich nicht sagen, oder? Ich fühle mich wie gerädert. Draußen kreischen die Sirenen von Feuerwehr und Ambulanz, drinnen in der Wohnung herrscht Stille. Die anderen vier sind längst zur Arbeit verschwunden. Sam ist Journalistin, sie verlässt in der Regel als Letzte das Haus – kommt aber auch meist als Letzte heim. Aubrey ist Fahrradkurier und hat damit den gefährlichsten Job in ganz New York. Sarah ist Krankenschwester, was wir seit Jessicas berüchtigtem »Küchengemetzel« sehr zu schätzen wissen, denn es hatte dramatische Folgen. Erstens: Niemand benutzt mehr die Brotschneidemaschine. Zweitens: Wir streichen Wände in der Küche nur noch in warmen Brauntönen, aber sicher nicht mehr weiß. Und drittens: Ein Daumen kann überleben, auch wenn er bis zum Knochen angeschnitten wurde. Und ja, es war so schlimm, wie es klingt. Jessica besitzt einen kleinen Buchladen an der 5th Avenue. Mal sehen, wie lange noch – der Laden soll schon recht bald verkauft werden.
Tja. Jede von ihnen arbeitet. Nur ich nicht. Was zur Hölle ist da gestern nur passiert? Nie hat mein Chef etwas gesagt, nicht ein Wort! Hätte er wenigstens Andeutungen gemacht, dann hätte ich mich verbessern können, die einzelnen Themen härter gepusht. Mich härter gepusht. Aber so … Ich hatte keine Chance. Wie konnte ich mich nur so irren? Und wie soll ich bei meiner nächsten Arbeitsstelle wissen, ob das, was ich tue, tatsächlich gut genug ist oder ob mein Chef mir nur sagt, was ich hören will?
Wie eine Alkoholleiche – nein, soooo viel habe ich gestern nun auch wieder nicht getrunken – erhebe ich mich aus meinem Queensize-Bett und schlüpfe ins Badezimmer. Nach den Basics kommt die Kür: Make-up, Puder, Rouge. Danach: Lippenstift, Lidschatten und die Wimpern verlängern. Perfekt. Jetzt noch ein bisschen Magie mit dem Dyson–Lockenstab und ta-da: Endlich sehe ich wieder aus wie ein Mensch.
Ich setze Teewasser auf und hole die Post. Wir haben einen von etwa fünfzehn Briefkästen hier im Haus und für gewöhnlich liegt so viel Werbung darin, dass es für die Dauer meines Ingwertees reicht, diese durchzulesen. Aber heute befindet sich eine Besonderheit in dem Stapel. Ein Brief an mich. Mich. Aus Deutschland. Wer sollte mir denn bitte schreiben?
Ich lege mir Werbung und Brief zurecht und setze mich mit einem riesigen Pott Ingwertee an den Esstisch. Erstmal die Werbung ansehen – was auch immer in diesem Brief steht – ich brauche noch ein paar Minuten, um klar genug im Kopf zu werden, um einen so offiziell aussehenden Brief zu lesen. Zumal eine Anwaltskanzlei der Absender ist. Klingt nach Ärger. Noch mehr Ärger …
Als der Pott fast leer ist und ich mir wirklich jedes der Werbeblättchen angesehen habe, reiße ich den Umschlag auf, entfalte das Papier und lese.
Sehr geehrte Frau Schreiber,
ich hoffe, diese Nachricht erreicht Sie wohlauf. Als Anwalt für Erbrecht habe ich Ihnen eine bedeutsame Mitteilung zu machen.
Mit tiefem Bedauern erinnere ich an das Ableben Ihrer Großmutter, Frau Helga Schreiber, die am 25. März 2024 verstorben ist. In diesen schweren Zeiten möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen.
Im Zuge der Testamentseröffnung und der Nachlassregelung habe ich die erfreuliche Aufgabe, Ihnen mitzuteilen, dass Sie das Haus Ihrer Großmutter in Rerik geerbt haben. Das Anwesen befindet sich im Grünen Winkel 1 und umfasst neben einer 200 Quadratmeter großen Maisonette-Wohnung einen 100 Quadratmeter großen Blumenladen im Erdgeschoss, den Ihre Großmutter bis zu ihrem Versterben betrieben hat.
Ihre Großmutter hat in ihrem Testament ausdrücklich verfügt, dass das Haus an Sie übergeht. Es war ihr Wunsch, dass Sie dieses Haus übernehmen und in Ehren halten.
Als Nachlassverwalter werde ich den gesamten Prozess der Nachlassabwicklung und der Eigentumsübertragung begleiten. Ich werde mich in den kommenden Tagen mit Ihnen in Verbindung setzen, um alle notwendigen Formalitäten zu besprechen und zu klären, wie wir weiter verfahren.
Falls Sie bereits jetzt Fragen haben oder Unterstützung benötigen, zögern Sie bitte nicht, mich zu kontaktieren. Meine Telefonnummer und E-Mail-Adresse finden Sie in der Signatur.
Mit freundlichen Grüßen
Harald Kunzemann
Kunzemann & Partner Anwälte
Heilige Scheiße! Mensch, Oma Helga! Du glaubst ja gar nicht, wie verdammt passend dieses Erbe gerade kommt. Das kann doch nicht wahr sein, dass ausgerechnet in dem Moment, in dem ich wirklich dringend Geld brauche, dieser Segen über mich kommt? Aber so war sie schon immer, meine Oma Helga! Zur rechten Zeit für mich da. Meine Augen werden feucht. Oma ist ein letztes Mal für mich dagewesen.
Es klingelt viermal, dann geht Herr Kunzemann ans Telefon.
»Kunzemann. Was kann ich für Sie tun?«
»Hallo, hier ist Anne Schreiber, ich habe Ihren Brief erhalten und wollte mich melden und fragen, wie es jetzt weitergeht.«
»Ach, Frau Schreiber, guten Tag! Mein Beileid.«
»Alles gut, ist ja jetzt schon fast ein halbes Jahr her. Sagen Sie, wenn dieses Haus jetzt mir gehört, dann kann ich damit doch tun, was ich will, richtig?«
»Absolut korrekt!«
»Super! Dann würde ich es gerne verkaufen.«
»Ah, in diesem Fall gibt es einen kleinen Haken.«
»Haken? Wieso?«
»Weil Ihre Großmutter genau für diesen Fall eine Sonderregelung getroffen hat.«
»Sonderregelung? Was soll das heißen?« Oma, das ist nicht dein Ernst?
»Einen Moment, ich lese vor.« Im Hintergrund ist zu hören, wie er Unterlagen zurecht sucht, schließlich liest er vor: »Für den Fall, dass meine Enkelin Anne das Gebäude verkaufen möchte, ist es mein Wille, dass sie vor dem Verkauf für einen Zeitraum von mindestens dreißig Tagen nachweislich in dem Gebäude gewohnt hat. Ich bitte diesen Umstand durch meinen Anwalt, Herrn Kunzemann, überprüfen zu lassen, um hier Schummelei auszuschließen.«
»Das ist ein Scherz.«
»Ähm, nein. So hat es ihre Großmutter verfügt.«
In letzter Zeit halte ich vieles für einen Scherz, das sich als bitterer Ernst entpuppt.
»Haben Sie eine Ahnung, was ein Flugticket von New York nach Hamburg und zurück kostet?«
»Nein, aber ich kann das gerne überprüfen.«
»Das müssen Sie nicht überprüfen, das war eine rhetorische Frage! Das ist verdammt teuer!« Wenn ich auch noch nach Deutschland fliegen muss, um das Haus zu verkaufen, kann ich mir die Miete für mein Zimmer noch maximal einen Monat leisten. Einen Monat, dreißig Tage.
»Okay, wissen Sie was, Frau Schreiber? Sie lassen sich das jetzt erstmal in Ruhe durch den Kopf gehen. Wenn Sie zu einer Entscheidung gekommen sind, rufen Sie mich an. Sie müssen das Haus ja nicht sofort abstoßen …« Oh, doch, denn ich brauche jetzt Geld. »Im nächsten Jahr ist es vielleicht etwas weniger wert, weil es dann lange nicht bewohnt war, aber bei dem Standort noch immer ein begehrtes Objekt.«
»Alles klar. Danke. Danke, Herr Kunzemann. Auf Wiederhören.«
Ich lege auf und sitze eine ganze Weile starr auf meinem Bett, das Handy noch immer in der Hand. Oma hat mir ihr Haus vererbt. Ich sehe es noch vor mir – die Blumenausladen vor den Ladenfenstern, die Tür zum Geschäft dazwischen. Es war immer kühl im Laden, aber es roch so gut, so lebendig. Ich habe ihn geliebt, diesen Laden. Und Oma.
Die Einzige, die ich bei der Arbeit stören kann, ist Jessica. Mit etwas Glück hat sie gerade keine Kundschaft und ich kann sie um Rat bitten. Als ich den kleinen Buchladen an der 5th Avenue betrete, ist tatsächlich nicht viel los. Nur zwei Kunden sind hier, wobei sich einer umschaut und der andere von Jessica beraten wird. Sie entdeckt mich und ich weiß, dass sie sich Zeit für mich nimmt, sobald sie kann. Ich hab’s ja nicht eilig. Nicht wie in den letzten Monaten. Genau genommen war ich erst ein einziges Mal hier und das war letzten Monat nach dem Wasserschaden. Wir mussten binnen kürzester Zeit alle Bücher aus dem Laden holen, weil im Stockwerk darüber eine Badewanne übergelaufen war. Es war eine einzige Katastrophe. Jessica hat die ganze Zeit geheult, während wir anderen vier eine Kiste nach der anderen im Eiltempo rausgeschleppt haben – jede von uns in ihren schicken Arbeitsklamotten, Aubrey in ihrer Fahrradkurier-Montur und Sarah im blauen Pflegerinnen-Outfit. Als dann spontan ein paar Passanten dazustießen und uns bei der Aktion halfen, taute auch Jessica aus ihrer Erstarrung auf, wischte sich die Tränen von den Wangen und packte mit an. Letztlich hielt sich der Schaden in Grenzen – sehr zum Unmut des Medienmoguls, der das ganze Haus samt Buchladen kaufen möchte. Keine Ahnung, weshalb dieser reiche Typ so einen Narren an ausgerechnet diesem Haus gefressen hat. Auf jeden Fall hat er Jessica schon eine Menge Geld geboten, aber bisher zeigt sie ihm die kalte Schulter.
»Was machst du hier?«, fragt sie mich, nachdem sie den Kunden abkassiert hat.
Ich halte den Brief in die Höhe. »Ich habe Post aus Deutschland. Von einem Anwalt.«
»Hast du was ausgefressen?«
»Im Gegenteil. Ich habe geerbt.«
»Von deiner Oma? Cool! Hoffentlich eine Stange Geld.«
»Schön wär’s. Sie hat mir ihr Haus vererbt.«
»Ihr Haus? Das ist blöd. Es wird ein paar Monate dauern, bis du von dem Verkauf Geld auf dem Konto hast.«
»Schlimmer: Wenn ich es verkaufen will, muss ich vorher dreißig Tage lang darin gelebt haben.«
»Sagt wer?«
»Meine Oma. So hat sie es in ihrem Testament festgehalten.«
Jessica verdreht die Augen. »Ich bitte dich! Vor keinem Gericht der Welt hätte diese Bedingung Bestand. Verkauf es einfach.«
»Aber es war ihr letzter Wille! Ich kann doch ihren letzten Willen nicht ignorieren.«
»Doch. Du kannst. Und du musst. Anne, meine Liebe, ich hasse es, dir das sagen zu müssen, aber du brauchst dringend Geld. Ganz egal, ob du in New York bleibst oder sonst wo hingehst. Du brauchst einen Job und Startkapital. Was wird das Haus bringen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hab ich noch nicht recherchiert.«
Jessica zieht ihr Handy aus der Gesäßtasche und öffnet den Browser. »Wir schauen mal, was andere Häuser so kosten. Wo steht es?«
»In Rerik. Das ist direkt an der Ostsee.«
»Was ist die Ostsee?«
»Halleluja! Es erschreckt mich immer wieder, wie wenig ihr Amerikaner über andere Länder dieser Welt wisst.«
»Re-rik. Immobilien. Hier. Hm. Interessant.«
»Was? Was steht da?«
»Also, andere Häuser in der Gegend kosten so 500.000 bis 800.000 Euro. Davon kannst du dir ein paar Jahre Miete in New York leisten.«
»Das ist ja krass! 500.000 Euro! Wahnsinn! Davon könnte ich sogar meinen Studienkredit abbezahlen!«
»Also, wenn du mich fragst: Verkauf es. So schnell du kannst.«
»Hast du mir nicht zugehört? Ich muss erst 30 Tage lang darin wohnen.«
»Hast du mir nicht zugehört? Du bist nicht dazu verpflichtet.«
»Sie hat sogar geschrieben, dass die Anwälte meine Anwesenheit dort kontrollieren sollen. Es muss ihr wichtig gewesen sein.«
»War deine Oma eine Hexe?«
»Im Gegenteil. Sie wusste nur, was sie wollte, und hat eine ziemlich genaue Vorstellung gehabt, was mein Leben betrifft.«
»Und du hast ernsthaft vor, dir von einer Toten noch immer sagen zu lassen, was du tun sollst?«
»Diese Tote, von der du da sprichst, war immerhin meine Lieblings-Oma und hat mich nach dem Tod meiner Eltern großgezogen. 500.000 Euro, Jessica. Ganz ehrlich: Da sind die paar Dollars für die Flüge hin und zurück doch Peanuts.«
»Das stimmt. Du kannst es als Investition sehen.«
Ich nicke. Dreißig Tage. Die sind schnell vorbei. Hinfliegen, dreißig Tage lang dort leben, nebenbei Bewerbungen schreiben und ein bisschen Ostseeluft schnuppern. Dann verkaufe ich das Haus und mein Traumleben in New York kann weitergehen. »Du, ich mach’s. Ich fliege nach Rerik.«
Blumen mit Meer und Liebe
Taschenbuch: 9,99 Euro
E-Book: 2,99 Euro
Anne hat alles verloren – ihren Job, ihren Freund und ihre Träume in New York. Doch ein unerwarteter Brief verändert alles: Sie erbt das Haus ihrer Großmutter samt Blumenladen im idyllischen Rerik. Bevor sie es verkaufen kann, muss sie jedoch einen Monat darin wohnen.
Beim Einzug in das alte Haus entdeckt Anne, dass sie nicht allein ist. Samuel, ein gutaussehender aber hochgradig nerviger Surflehrer, lebte mit Annes Oma in dem Haus und darf laut Brief der alten Dame die Hälfte davon beanspruchen. Annes Ziel ist klar: Samuel muss raus, damit Anne das Haus verkaufen kann! Doch je mehr Zeit sie in dem charmanten Blumenladen verbringt, desto mehr verliebt sie sich in die Vorstellung eines neuen Lebens. Und je häufiger sie Samuel über den Weg läuft, desto schneller schlägt ihr Herz. Aber ein neues Leben zu beginnen, ist schwerer als gedacht und als Annes Ex-Freund an der Ostsee auftaucht, muss sich Anne fragen, was und wen sie will.