12 Monate später
Ein herzzerreißendes Schreien weckte Liz. Sie öffnete die verklebten Augen und zog Liam zu sich, der aufgewacht war und sicher Hunger hatte. Mittlerweile waren sie recht geübt beim Stillen, aber ihre Brustwarzen waren von der fast stündlichen Saugerei wund. Liz biss sich auf die Lippe, während Liam schluckte.
„Hey“, flüsterte Keno und küsste verschlafen ihre Schulter. „Ist er jetzt wach?“
„Wahrscheinlich. Aber ich bin noch so müde.“
„Wie oft hat er die Nacht getrunken?“
„Nur viermal.“
„Nur? Dir ist klar, wie viele Stunden Schlaf am Stück du dann maximal gehabt hast?“
Liz gähnte. „Ich rechne nicht nach. Das würde mich nur frustrieren. Ich habe mich mit dem Zustand ständiger Übermüdung arrangiert. Seitdem gehts mir besser.“
Keno sah auf die Uhr. „Wenn er satt ist, nehme ich ihn. Dann kannst du noch eine Stunde schlafen.“
„Das klingt himmlisch.“ Fast wäre sie wieder eingenickt, aber Liam riss sich schmerzhaft und quengelnd von ihrer Brust. Heute würde kein guter Tag werden.
Kenos Bettseite hob sich, als er aufstand und sich ein T-Shirt überzog. Dann nahm er seinen Sohn auf den Arm.
„Hallo, großer Mann, was haben wir denn für ein Problem? Ist doch alles gut. Alles gut.“ Er schlich förmlich aus dem Schlafzimmer und schloss leise die Tür. Liz drehte sich um und kuschelte sich in Kenos Kissen, das so wunderbar nach ihm duftete.
Keno drückte seinen Sohn an die Brust und verließ den Raum. Finn stand schwanzwedelnd vor der Schlafzimmertür.
„Na Kumpel, hat er dich geweckt?“ Finn folgte ihm ins Kinderzimmer. Dort, fand Keno, ließ Liam sich am besten beruhigen, wenn Mama in der Werkstatt war. Er griff nach der Spieluhr, die sie von Merle vor zwei Monaten zur Geburt bekommen hatten, und setzte sich in die weichen Kissen des Schaukelstuhls. Dann legte er sich Liam auf die Brust, zog die Spieluhr auf und wippte gemütlich vor und zurück. Das Schimpfen und Weinen seines Sohnes ließ nach und ebbte unter Kenos ruhigen Atemzügen vollends ab. Finn machte es sich neben dem Schaukelstuhl bequem und schnarchte irgendwann leise vor sich hin.
„Sag ich doch. Alles ist gut.“
Er küsste Liams von weichem, dunklem Haar bedeckten Kopf und sog den Babyduft tief ein. Hoffentlich vergaß er ihn niemals. Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Die Sonne ging gerade über der Ostsee auf und tauchte den Himmel in ein gemütliches Orange. Heute war sein dreißigster Geburtstag. Vor einem Jahr hatte sich sein Leben um hundertachtzig Grad gewendet. Er hatte Liz um einen Tanz gebeten. Bekommen hatte er ein Kind, das mehr überraschend als wirklich geplant gekommen war. Nur zu gut erinnerte er sich an Liz‘ ängstliche Stimme am Telefon. Gerade war er bei einem Kunden gewesen, um einen Einbauschrank einzupassen, als sie anrief und ihn bat, sofort nach Hause zu kommen. Sie hatten damals noch nicht mal zusammen gewohnt. Sie wollten sich Zeit lassen – so der offizielle Plan. Aber bei der Verhütung musste etwas schief gegangen sein. Was stand auf dem Beipackzettel der Pille? Eine Schwangerschaft war nicht hundertprozentig auszuschließen. Sie waren das eine Prozent, bei dem es trotzdem geklappt hatte. Als er heimgekommen war und Liz völlig fertig im Badezimmer entdeckt hatte, musste er kurz an Melanie denken. Damals, als sie im Brautkleid in der Küche gesessen hatte. Sie hatte ähnlich verzweifelt ausgesehen und für einen kurzen Moment hatte er verstanden, wie sie sich gefühlt haben musste. Liz‘ Tränen jedoch hatte er nicht verstanden. Er hatte den positiven Test neben dem Waschbecken liegen sehen, sie in den Arm genommen und für eine ganze Weile nur noch gegrinst. Nein, sie hatten es sich anders vorgestellt. Wollten es langsam angehen. Liz wollte zunächst ihre Werkstatt und den Laden zum Laufen bringen. Sie wollten irgendwann zusammenziehen, erst in ein paar Jahren heiraten. Wenn überhaupt. Aber, so schien es ihm, das Schicksal oder das Glück oder das Leben hatte etwas anderes mit ihnen vor. Alles eine Frage des Timings, hatte Merle gesagt und Liz gleich zwei Bücher aus der Buchhandlung mitgebracht. Eines zur Schwangerschaft und eines über berufstätige Mütter.
Liz‘ Tränen hatten für Keno keinen Sinn ergeben. Erst als sie ihm erklärt hatte, dass sie für die nächsten Jahre ganz andere Pläne hatte, verstand er, was in ihr vorging. Wie gefangen sie sich in der Situation fühlte.
„Verstehst du nicht?“, hatte sie unter Tränen gesagt. „Ich muss all meine Pläne aufs Eis legen. Für Jahre! Meine Werkstatt, meinen Laden! Einfach alles!“
„Aber, Schatz“, hatte er gesagt. „Du bist doch nicht allein! Ich bin doch auch da. Wir sind zu zweit.“
„Du hast deine Schreinerei, deine Kunden, deine Aufträge. Du wirst der Einzige sein, der Geld nach Hause bringt. O Gott, und wir sind noch nicht mal zusammengezogen!“
„Dir ist klar, dass ich Mitarbeiter habe? Und dass wir direkt nebeneinander wohnen? Ich habe Brüder und Freunde und ein ganzes Dorf, das uns helfen wird. Du bist nicht mehr allein, Liz. Wir alle helfen dir.“
Und genau so war es. Seine Brüder und Freunde halfen, die paar Habseligkeiten, die Liz besaß, in sein Haus umzuziehen. Während der Schwangerschaft hatte sie an Schmuckstücken gearbeitet und einen Online-Shop eröffnet. Einen Laden hier auf Rügen hatte sie noch nicht, aber das wollte sie unbedingt als Nächstes angehen. Er hatte seine Arbeitszeit reduziert, war jetzt mehr Chef als Schreiner und kümmerte sich um die Buchhaltung und Lohnabrechnung, während seine Mitarbeiter die Kundentermine wahrnahmen und die Projekte umsetzten.
Die Tür ging leise auf und Liz trat herein – komplett angezogen und für den Tag fertig. „Hey. Seid ihr noch mal eingeschlafen?“
Keno sah aus dem Fenster. Die Sonne war um einiges höher gestiegen und Liam atmete flach auf seiner Brust. Auch Finn hatte sich keinen Zentimeter bewegt.
„Scheint so.“
„Ich geh rüber. Zum Mittagessen bin ich wieder da.“
„Alles klar. Falls er Hunger bekommt, bringe ich ihn dir kurz.“
Sie lächelte. „Perfekt.“ Für einen Moment schien sie das Zimmer verlassen zu wollen, hielt dann aber inne und trat zu ihren beiden Jungs. „Es ist wirklich perfekt“, sagte sie und beugte sich hinunter, um Keno einen Kuss zu geben. Keinen flüchtigen Kuss, sondern einen langen, intensiven, der seine Kopfhaut prickeln ließ. Schmunzelnd löste sie sich von ihm.
„Du meinst, deine kleine Familie?“
„Das, ja. Und du in dem Schaukelstuhl. Er ist wie für dich gemacht.“
Keno lehnte den Kopf gemütlich an die Lehne. Liz hatte recht. Wenn sie stillte, nutzt ihr der Stuhl rein gar nichts. Der Winkel passte nicht, hatte sie gemeint. Deshalb saß sie nie darin. Aber für ihn, für den Papa, war der Schaukelstuhl tatsächlich perfekt.
